Die Päpstin
dieses Schwert auf der Stelle
den Tod finden. Wählt sie aber die Spindel, so wird sie selbst zur Sklavin.«
Es war eine schreckliche Wahl. Einmal hatte Gerold ein anderes Mädchen erlebt – nicht so hübsch, aber so jung wie Hildegard
–, das die gleiche Entscheidung hatte treffen müssen. Sie hatte sich für das Schwert entschieden und zuschauen müssen, wie
der Mann, den sie liebte, vor ihren Augen abgeschlachtet worden war. Aber was hätte sie tun können? Wer würde schon freiwillig
die völlige Rechtlosigkeit wählen, die scheußliche Erniedrigung – nicht nur für sich selbst, sondern auch für die Kinder,
Kindeskinder und alle zukünftigen Generationen?
Das Mädchen stand schweigend und bewegungslos da. Sie war nur leicht zusammengezuckt, als Gerold das Verfahren erklärt hatte.
»Begreift Ihr die Bedeutung der Wahl, die Ihr nun treffen müßt?« fragte Gerold sie sanft.
»Sie begreift es, Markgraf Gerold.« Ermoins Hand krallte sich fester um den Arm seiner Tochter. »Sie weiß genau, was sie tut.«
Das glaubte Gerold ihm nur zu gern. Er war sicher, daß Ermoin und seine Frau das Mädchen durch die schrecklichsten Drohungen
und Flüche, vielleicht sogar Prügel dazu gebracht hatten, sich für das Schwert zu entscheiden.
Die Wächter, die zu beiden Seiten des jungen Mannes standen, packten seine Arme, um jeden Fluchtversuch zu verhindern. Der
junge Bursche bedachte die Männer mit einem verächtlichen Blick. Er hatte ein interessantes Gesicht – dichte, dunkle Brauen;
kräftiges, schwarzes, gewelltes Haar; kluge |230| Augen; ein schön geformtes Kinn; hohe Wangenknochen und eine schmale, gerade Nase. In seinen Adern schien Römerblut zu fließen.
Er mochte ein Sklave sein; aber er hatte Mut. Gerold gab den Wächtern ein Zeichen, den Jungen loszulassen.
»Nun denn, mein Kind«, sagte er zu dem Mädchen. »Entscheide dich.«
Der Vater flüsterte Hildegard irgend etwas ins Ohr. Sie nickte, und er ließ ihren Arm los und stieß sie nach vorn.
Sie hob den Kopf und blickte den jungen Mann an. Aus ihren Augen sprach eine so tiefe Liebe, daß es Gerold den Atem raubte.
»Nein!« Der Vater versuchte, das Mädchen aufzuhalten, doch es war zu spät. Ohne den Blick von ihrem Mann zu nehmen, ging das
Mädchen zur Spindel, setzte sich auf den Schemel und begann, die Spindel zu drehen.
Am folgenden Tag, auf dem Heimritt nach Villaris, dachte Gerold über die Gerichtssitzung nach. Das Mädchen hatte alles geopfert
– ihre Familie, ihr Vermögen, sogar ihre Freiheit. Die Liebe, die Gerold in ihren Augen gesehen hatte, entfachte seine Phantasie
und bewegte sein Inneres auf eine Art und Weise, die er nicht verstand. Er wußte nur eins – mit einer Gewißheit, die alle
Zweifel verdrängte: Auch er wollte diese Reinheit und Kraft der Gefühle verspüren, die alles andere blaß und bedeutungslos
erscheinen ließ. Noch war es nicht zu spät für ihn. Er war erst siebenundzwanzig – nicht mehr jung vielleicht, aber immer
noch im besten Mannesalter.
Seine Frau Richild hatte er nie geliebt; ebensowenig wie sie ihn liebte. Sie beide hatten sich von Anfang an einander nichts
vorgemacht. Sie hatten eine Zeitlang fleischliche Lust verspürt, doch Liebe war nie im Spiel gewesen. Wenn Richild vor der
Wahl stünde – so, wie das Mädchen gestern –, würde sie nicht einmal einen ihrer juwelenbesetzten Kämme für ihn, Gerold, hergeben.
Ihre Hochzeit war nichts anderes als das sorgsam ausgehandelte Geschäft zweier einflußreicher Familien gewesen, eine Ehe zwischen
Geld und Macht. So war es nun mal üblich, und bis vor kurzem hatte zumindest Gerold auch nicht mehr verlangt. Als Richild
nach Dhuodas Geburt erklärt hatte, keine Kinder mehr zu wollen, hatte er diesen Wunsch akzeptiert – ohne das Gefühl, irgend
etwas Wertvolles unwiederbringlich |231| verloren zu haben. Es war für Gerold nicht schwierig gewesen, willige Gefährtinnen zu finden, mit denen er seine sexuelle
Lust auch außerhalb des Ehebetts befriedigen konnte.
Jetzt aber hatte sich das alles verändert. Wegen Johanna. Er stellte sie sich vor: ihr dichtes, weißgoldenes Haar, das ihr
Gesicht umrahmte; ihre klugen, wissenden graugrünen Augen, die ihr wahres Alter Lügen straften. Die Sehnsucht nach ihr, die
noch stärker war als sein Begehren, ließ ihm das Herz in der Brust schmerzen. Einen Menschen wie Johanna hatte er nie zuvor
gekannt. Ihr scharfer Verstand faszinierte ihn, und ihre Bereitschaft,
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