Die Päpstin
Gedanken und Ideen in Frage zu stellen, die andere
Menschen als selbstverständliche und unerschütterliche Wahrheiten betrachteten, erfüllte ihn beinahe mit Ehrfurcht. Mit Johanna
konnte er reden wie mit niemandem sonst. Ihr konnte er alles anvertrauen, sogar sein Leben.
Es wäre ihm ein leichtes gewesen, sie zu seiner Geliebten zu machen – ihre letzte Begegnung am Flußufer hatte keine Zweifel
daran gelassen. Untypischerweise hatte er seinem Verlangen nicht nachgegeben. Er wollte mehr als die bloße körperliche Vereinigung.
Was dieses ›mehr‹ war, hatte er damals nicht gewußt.
Jetzt wußte er es.
Ich möchte, daß sie meine Frau wird.
Es würde schwierig sein – und zweifellos kostspielig –, sich von Richild zu trennen; aber das spielte keine Rolle für ihn.
Johanna soll meine Frau werden, wenn sie mich haben möchte.
Als Gerold diesen Entschluß erst einmal gefaßt hatte, überkam ihn ein Gefühl des Friedens. Er atmete tief durch, genoß die
berauschenden, erregenden Düfte des frühsommerlichen Waldes und fühlte sich so glücklich und lebendig wie seit Jahren nicht
mehr.
Sie waren Villaris schon sehr nahe. Eine dunkle Wolke hing tief und schwer in der Luft und verwehrte Gerold den Blick auf
die Gebäude der Burganlage. Dort, wo Johanna war und auf ihn wartete … ungeduldig trieb er sein Pferd in einen leichten Galopp.
Plötzlich stieg ihm ein unangenehmer Geruch in die Nase.
Rauch.
Die Wolke, die über Villaris schwebte, war Rauch.
|232| Augenblicke später preschten Gerold und seine Begleiter in rücksichtslosem, wildem Galopp durch den Wald, achteten nicht auf
die Zweige, die ihnen ins Gesicht peitschten und an Haar und Kleidung zerrten. Schließlich jagten ihre Pferde auf die Lichtung,
und die Männer Rissen an den Zügeln und starrten fassungslos auf das Bild, das sich ihnen bot.
Villaris gab es nicht mehr.
Unter den träge wogenden Rauchschwaden waren geschwärzte Trümmerhaufen und Asche zu sehen. Mehr war von dem Heim nicht übrig,
daß sie erst drei Wochen zuvor verlassen hatten.
»Johanna!« rief Gerold. »Dhuoda! Richild!« Hatten sie fliehen können, oder waren sie tot, irgendwo begraben unter den schwelenden
Trümmerhaufen?
Gerolds Männer hatten sich bereits über das Gelände verteilt. Auf den Knien hockend, durchwühlten sie den Schutt und die Trümmer
auf der Suche nach irgend etwas, das noch zu erkennen war – Kleiderfetzen, ein Schmuckstück, eine Kopfbedeckung. Einige Männer
weinten hemmungslos, als sie die Trümmer durchwühlten, von der Angst erfüllt, jeden Augenblick das zu finden, nach dem sie
suchten.
An einer Seite der verwüsteten Burganlage, unter einem Haufen geschwärzter Balken, erblickte Gerold plötzlich etwas, das ihm
jede Hoffnung raubte.
Es war ein Fuß. Der Fuß eines Menschen.
Er rannte dorthin und zog die Balken zur Seite, zerrte am rauhen Holz, bis seine Hände bluteten, doch er bemerkte es gar nicht.
Allmählich kam der Körper zum Vorschein, der von den Balken bedeckt gewesen war. Es war der Leichnam eines Mannes. Er war
so schrecklich verbrannt, daß die Gesichtszüge kaum noch zu identifizieren waren. Doch an dem Amulett, das der Tote um den
Hals trug, erkannte Gerold, daß es sich um Andulf handelte, einen der Wachtposten. In der rechten Hand hielt er ein Schwert.
Gerold beugte sich nieder, um die Waffe an sich zu nehmen, doch die Hand des Toten hielt den Griff umklammert und hob sich
mit. Die Hitze des Feuers hatte den Handgriff geschmolzen; Eisen, Knochen und verbranntes Fleisch waren zu einer festen Masse
zusammengebacken.
Andulf war im Kampf gestorben. Aber gegen wen hatte er gekämpft? Oder gegen was? Gerold betrachtete die Landschaft |233| mit dem geschulten Auge des Soldaten. Nirgends war ein Anzeichen für ein Lager zu sehen, und die Angreifer hatten keine Waffen
oder sonstiges Material zurückgelassen, das einen Rückschluß auf die Geschehnisse erlaubt hätte. Der umliegende Wald lag still
und bewegungslos im klaren Licht des Frühsommernachmittags.
»Herr!« Gerolds Männer hatten die Leichen zweier weiterer Wachtposten entdeckt. Wie Andulf, waren auch sie im Kampf gefallen
und hielten die Waffen noch in den Händen. Die Entdeckung der Leichen entfachte den Eifer der Männer aufs neue, die Suche
fortzusetzen, doch sie blieb ergebnislos. Kein weiterer Leichnam wurde gefunden, kein Hinweis auf den Verbleib der anderen
Bewohner entdeckt.
Wo sind sie alle?
Gerold und
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