Die Päpstin
darunter Sueton, Tacitus, Vergil, Plinius und Marcellinus. Mit freudigem Entzücken
durchforschte Johanna die sorgfältig geordneten Stapel aus Pergamentrollen. Wie es schien, war hier alles Wissen der Welt
gesammelt, und dieses Wissen stand ihr uneingeschränkt offen.
Als Joseph, der Prior, Johanna eines Tages dabei antraf, wie sie eine wissenschaftliche Abhandlung des heiligen Chrysostomos
las, erkannte er voller Erstaunen, daß sie der griechischen Sprache mächtig war – eine Fähigkeit, die keiner der anderen Brüder
besaß. Joseph erzählte dem Abt Rabanus Maurus davon, der Johanna sofort mit der Aufgabe betraute, die kostbare Sammlung griechischer
Abhandlungen über die Medizin zu übersetzen, die sich im Besitz des Klosters befand. Unter diesen Schriften befanden sich
fünf der sieben Aphorismenbücher des Hippokrates, die vollständige
tetrabiblios
des Aetius sowie Fragmente der Werke des Oribasius und des Alexander von Tralles. Bruder Benjamin, der Arzt des Klosters,
war von Johannas Arbeit dermaßen beeindruckt, daß er sie zu seinem Lehrling machte. Er brachte ihr bei, wie man die Pflanzen
im Kräutergarten pflegte, wie man sie erntete und aufbewahrte und auf welche Weise man sich ihre verschiedenen Heilkräfte
zunutze machte: Fenchel gegen Verstopfung; Senf gegen Husten; Kerbel gegen Hämorrhoiden; Absinth gegen Fieber – in Benjamins
Garten wuchs gegen jedes erdenkliche Leiden, das den Menschen heimsuchen konnte, ein Heilkraut. Johanna half ihm, die verschiedenen
Wickel und Umschläge, Aufgüsse und Abführmittel, Tränke und Pulver zu bereiten, die den wichtigsten Stützpfeiler klösterlicher
Medizin bildeten, und sie begleitete ihn zum Spital, um sich um die Kranken zu kümmern. Es war eine faszinierende Arbeit,
die Johannas analytischem Verstand und ihrem von Forscherdrang beseelten Geist entgegenkam. Ihre Tage waren geschäftig und
ausgefüllt; neben ihren Studien und der Zeit, die sie bei Bruder Benjamin verbrachte, läutete siebenmal täglich die Klosterglocke
und rief die Mönche zu Gebeten und Gottesdiensten. |247| Doch besonders die Stunden, die Johanna bei Bruder Benjamin verbrachte, gefielen ihr. Sie gefielen ihr sogar sehr. Denn Benjamin
besaß eine innere Freiheit und Kraft, wie Johanna es bis jetzt bei keinem Menschen erlebt hatte.
»Vielleicht sollte ich es dir gar nicht erzählen, sonst schwillt dir vor Stolz der Kamm so sehr, daß dein Kopf nicht mehr
unter die Kapuze paßt«, hatte der geschwätzige alte Hatto, der Pförtner, erst wenige Tage zuvor zu Johanna gesagt und sie
dabei fröhlich angelächelt, damit sie erkannte, daß seine Worte scherzhaft gemeint waren. »Aber gestern habe ich gehört, wie
der Vater Abt und Prior Joseph sich darüber unterhalten haben, daß du den schärfsten Verstand von uns allen besitzt und daß
du diesem Kloster eines Tages sehr viel Ehre machen wirst.«
Die Worte der alten Wahrsagerin auf dem Jahrmarkt in St. Denis kamen Johanna in den Sinn: »Macht und Größe werden dein …«
Hatte die alte Frau
das
damit gemeint? »Wechselbalg«, hatte die Alte sie genannt und gesagt: »Du bist, was du nicht sein wirst, und was du werden
wirst ist anders, als du bist.«
Was das angeht, hatte die alte Frau schon mal recht, ging es Johanna voller Bedauern durch den Kopf, wobei sie ihren Scheitel
betastete und den haarlosen Kreis der Tonsur spürte, der von der dichten Fülle des weißblonden Haarkranzes fast verdeckt wurde.
Ihr Haar – es war wie das Haar ihrer Mutter – war Johannas einzige Eitelkeit gewesen. Dennoch hatte sie es bereitwillig abschneiden
lassen; denn ihre Mönchstonsur sowie die Narbe auf der Wange, die das Normannenschwert hinterlassen hatte, ließen die Maske
der Männlichkeit glaubwürdiger erscheinen – eine Maskerade, von der Johannas Leben abhing.
Als sie ins Kloster nach Fulda gekommen war, hatte sie anfangs jeden Tag in ängstlicher Anspannung verbracht; denn damals
wußte sie ja nicht, ob irgendein neuer, unbekannter und unerwarteter Aspekt des klösterlichen Alltagslebens plötzlich ihre
wahre Identität enthüllen würde. Sie mühte sich nach besten Kräften, die Körperhaltung, die Mimik und das Gebaren eines Mannes
anzunehmen, lebte aber in ständiger Furcht, ihr wahres Geschlecht durch Dutzende unmerklicher, unverdächtiger weiblicher Gesten
zu verraten. Doch niemand schien etwas zu bemerken.
Glücklicherweise war das Leben in einem Benediktinerkloster |248|
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