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Die Päpstin

Titel: Die Päpstin Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Aufbau
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14.
FULDA
    Im schattigen Mondlicht, das lange vor dem Einbruch der Morgendämmerung herrschte, stiegen die Mönche des Klosters zu Fulda
     die Treppen vom Dormitorium hinunter und gingen, schweigend und feierlich, in einer Reihe über den Innenhof der Kirche. Ihre
     grauen Umhänge verschmolzen nahtlos mit der Dunkelheit. In der vollkommenen Stille war das leise Klatschen ihrer schlichten
     Ledersandalen auf dem kalten Steinboden das einzige Geräusch; selbst die Vögel würden erst in einigen Stunden mit ihrem Gesang
     beginnen. Die Mönche betraten den Chorraum und bewegten sich mit einer Sicherheit, wie nur lange Gewohnheit sie hervorbringt,
     an ihre zugewiesenen Plätze, um die Vigilien zu feiern, die Morgenmesse.
    Bruder Johannes Anglicus kniete gemeinsam mit den anderen nieder und rutschte mit unbewußten, geübten Bewegungen solange auf
     den Knien, bis er auf dem festgestampften Lehmfußboden die bequemste Körperhaltung gefunden hatte.
    Domine labia mea aperies
… Die Mönche begannen mit der Morgenfeier, mit drei Psalmenlesungen samt Responsorien und Halleluja, Laudes, Apostellesung,
     Responsorium, Hymnus, Bibelvers, Evangelium und Bittgebet und noch einmal Lobgesängen – der Ablauf der Laudes laut jenen Ordensregeln,
     die der heilige Benedikt dreihundert Jahre zuvor aufgestellt hatte.
    Johannes Anglicus mochte diesen ersten Gottesdienst des Tages. Das unveränderliche Muster der Zeremonie ließ dem Geist genug
     Freiraum umherzuschweifen, während die Lippen ganz von selbst die vertrauten Worte formten. Einigen Brüdern sank bereits wieder
     der Kopf auf die Brust, doch Johannes Anglicus fühlte sich hellwach; all seine Sinne waren klar und geschärft in dieser kleinen,
     von flackerndem Kerzenlicht erhellten Welt, die von gewaltigen, Sicherheit gewährenden Wänden umgrenzt wurde.
    |245| Zu dieser nächtlichen Stunde empfand Johannes Anglicus das Gefühl der Zugehörigkeit zur klösterlichen Gemeinschaft besonders
     stark. Die krassen Unterschiede, die grelles Tageslicht hervorbrachte, das die Einzelpersönlichkeiten enthüllte, das die Vorlieben
     und Abneigungen erkennen ließ, die Sympathien und die Antipathien – all diese scharfen Konturen wurden von den gedämpften
     Schatten und dem volltönenden Gleichklang der Stimmen verwischt, die melodisch und gedämpft durch die stille Nachtluft klangen.
    Te deum laudamus
… Mit den anderen Mönchen sang Johannes Anglicus das Halleluja. Die gesenkten, von Kapuzen bedeckten Köpfe waren einander
     so ähnlich, daß man sie ebensowenig unterscheiden konnte wie Samenkörner in einer Ackerfurche.
    Doch Johannes Anglicus war anders als die anderen. Er gehörte nicht in diese erlesene Bruderschaft aus Gelehrten, Theologen,
     Denkern, Malern, Übersetzern und Kopisten. Aber dies war nicht auf eine unterlegene Kraft des Geistes oder des Willens zurückzuführen
     oder auf mangelnde Charakterstärke. Es lag an der Launenhaftigkeit des Schicksals, vielleicht auch am Willen eines grausamen
     und gleichgültigen Gottes, daß Johannes Anglicus ein Außenseiter war – unabänderlich und unwiderruflich. Er gehörte nicht
     zu den Brüdern des Klosters zu Fulda, weil Johannes Anglicus, geborene Johanna von Ingelheim, eine Frau war.
     
    Vier Jahre waren vergangen, seit Johanna – in der Verkleidung ihres Bruders Johannes – an der Pforte des Klosters erschienen
     war. Ihres englischen Vaters wegen gaben die Mönche ihr den Beinamen »Anglicus«, und selbst unter dieser auserlesenen Schar
     von Künstlern und Gelehrten tat sie sich rasch durch ihre einzigartigen Geistesgaben hervor.
    Genau jene Eigenschaften, die ihr als Frau Verachtung und Spott eingetragen hatten, wurden hier ohne Einschränkungen geachtet
     und geschätzt: Ihre Klugheit, ihre Kenntnisse der Heiligen Schrift, ihre rasche Auffassungsgabe, ihre Schlagfertigkeit und
     die logische Schärfe ihrer Gedanken bei gelehrten Disputen wurden zum Stolz der gesamten Bruderschaft. Im Kloster hatte Johanna
     die Möglichkeit, bis an die Grenzen ihrer Fähigkeiten vorzustoßen; hier schob man ihr keinen Riegel vor, sondern ermutigte
     sie sogar zum Studium. Unter den |246| Novizen wurde sie rasch zum
senior
ernannt, einem »älteren Bruder«. Dies wiederum verschaffte ihr größere Freiheiten, was den Zugang zur berühmten Bibliothek
     des Fuldaer Klosters betraf – einem gewaltigen Bestand von etwa dreihundertundfünfzig Codices, einschließlich einer wundervollen
     Sammlung von Werken klassischer Autoren,

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