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Die Päpstin

Titel: Die Päpstin Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Aufbau
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beobachtete, fragte sich:
War auch mein Glaube jemals so schlicht?
Vielleicht über eine kurze Zeitspanne hinweg: Als er ein kleiner Junge gewesen war. Doch seine Unschuld war an jenem Tag gestorben,
     als man seinen Onkel Theodorus im Lateranpalast vor seinen Augen ermordet hatte. »Sieh hin!« hatte sein Vater ihn damals ermahnt.
     »Beobachte und lerne.«
    Anastasius hatte beobachtet, und er hatte gelernt – gelernt, wie man seine wahren Gefühle hinter der Maske höflichen Auftretens
     verbarg; gelernt, wie man intrigierte und bestach, belog und betrog, ja, sogar Verrat übte, falls nötig. Die Belohnung für
     dieses Wissen und diese Fähigkeiten war erfreulich gewesen. Mit neunzehn war Anastasius bereits
vestiarius
– der jüngste Mann, der jemals ein so hohes Amt erlangt hatte. Sein Vater Arsenius war sehr stolz auf den Sohn, und Anastasius
     hatte die Absicht, seinen Vater mit noch mehr Stolz zu erfüllen.
    |240| »Jesus Christus, gib mir die Klugheit, die ich am heutigen Tage brauche«, fuhr Gregor fort. »Zeige mir, wie ich diesen schrecklichen
     Krieg vermeiden und diese aufständischen Söhne des Kaisers mit ihrem Vater versöhnen kann.«
    Weiß er nicht – selbst jetzt noch nicht –, was er heute verlieren könnte?
Anastasius mochte es kaum glauben. Dieser Papst war wirklich ein ausgemachtes Unschuldslamm. Mit seinen neunzehn Jahren war
     Anastasius noch nicht einmal halb so alt wie der Heilige Vater, aber er wußte bereits viel mehr über die Welt als Papst Gregor.
    Er ist für das Amt des Papstes ungeeignet,
dachte Anastasius, und das nicht zum erstenmal. Gregor war ein frommer Mann, daran gab es keinen Zweifel; doch Frömmigkeit
     war eine Tugend, die oftmals überschätzt wurde. Gregor wäre besser für das Leben in einem Kloster geeignet gewesen als für
     das Amt des Papstes, das mitunter komplizierte politische Winkelzüge erforderlich machte, die Gregor niemals begreifen würde.
     Was hatte Kaiser Ludwig sich nur dabei gedacht, als er Gregor gebeten hatte, die lange Reise von Rom bis ins fränkische Reich
     zu unternehmen, um in dieser Krisensituation als Vermittler aufzutreten?
    Anastasius hüstelte leise, um Gregor auf sich aufmerksam zu machen, doch der Papst war im Gebet versunken und blickte die
     Christusfigur mit einem Ausdruck tiefster Innigkeit an.
    »Es wird Zeit, Heiligkeit.« Anastasius zögerte nicht, die Andacht des Papstes zu unterbrechen. Gregor betete jetzt seit mehr
     als einer Stunde, und der Kaiser wartete.
    Verdutzt blickte Gregor sich um und hielt nach Anastasius Ausschau. Als er den jungen Mann sah, nickte er, bekreuzigte sich,
     stand auf und strich sich das glockenförmige weiße Meßgewand glatt, das er über der päpstlichen Dalmatika trug.
    »Wie ich sehe, hat die Christusfigur Euch Kraft gegeben, Heiligkeit«, sagte Anastasius und half Gregor, das
pallium
anzulegen. »Auch ich habe ihre Kraft gespürt.«
    »Ja. Die Figur ist wundervoll, nicht wahr?«
    »In der Tat. Ein herrliches Werk. Besonders die Schönheit des Kopfes, der im Verhältnis zum Körper sehr groß ist. Er erinnert
     mich stets an Paulus’ ersten Brief an die Korinther. ›Und der Kopf der Christenheit ist Gott.‹ Ein wundervoller Ausdruck des
     Gedankens, daß Christus in seiner Person sowohl die göttliche als auch die menschliche Natur in sich vereint.«
    |241| Ein anerkennendes Lächeln legte sich auf Gregors Gesicht. »Ich glaube, so treffend habe ich diesen Gedanken noch niemanden
     ausdrücken hören. Du bist ein guter
vestiarius
, Anastasius; und so, wie du deinen Glauben in Worte kleidest, ist er eine Quelle der Inspiration.«
    Anastasius war hocherfreut. Ein solches päpstliches Lob konnte sich rasch in einer weiteren Beförderung niederschlagen – zum
nomenclator
, möglicherweise, oder vielleicht sogar zum
primicerius
. Er war noch sehr jung, gewiß, aber so hohe Ämter waren durchaus nicht unerreichbar. Im Grunde waren sie ohnehin nichts weiter
     als Stationen auf dem Weg zum alles überragenden Ziel in Anastasius’ Leben: eines Tages selbst Papst zu sein.
    »Jetzt lobt Ihr mich aber zu sehr, Heiligkeit«, sagte Anastasius und hoffte, daß es sich bescheidener anhörte, als es gemeint
     war. »Nicht meinen unbedeutenden Worten gebührt Eure Anerkennung, sondern der vollendeten Ausführung der Skulptur.«
    Wieder lächelte Gregor. »Das nenne ich wahre Demut und Bescheidenheit.« Stolz legte er dem jungen Mann die Hand auf die Schulter
     und fügte mit ernster Stimme hinzu: »Heute,

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