Die Päpstin
war ein kleines Bändchen
von etwa einhundert Seiten Umfang. Die betreffenden Kapitel wurden vom Anfang bis zum Ende hintereinanderweg verlesen, jeden
Tag eines, so daß die Bruderschaft im Laufe eines Jahres die benediktinischen Regeln in ihrer Gesamtheit zu hören bekamen.
Nach dem Verlesen der Ordensregel und dem Segen fragte |255| Abt Rabanus: »Hat einer von euch irgendein Vergehen zu beichten, Brüder?«
Noch bevor der Abt geendet hatte, sprang Bruder Thedo auf und sagte: »Ich, Vater.«
»Und welchen Verstoß hast du begangen?« fragte Rabanus nach einem leisen Seufzer, denn Bruder Thedo war stets der erste, wenn
es darum ging, sich selbst eines Vergehens zu bezichtigen.
»Ich habe beim
opus manuum
versagt und bin im Scriptorium eingeschlafen, Vater, als ich ein Kapitel aus einer Schrift über das Leben des heiligen Romuald
kopiert habe.«
»Du bist eingeschlafen?« Abt Rabanus hob eine Braue. »Schon wieder?«
Ergeben senkte Thedo den Kopf.»Ich bin unwürdig und sündig, Vater. Bitte, verhängt die härteste aller Strafen über mich.«
Wieder seufzte Abt Rabanus. »Also gut. Als Buße wirst du zwei Tage lang vor der Kirche stehen.«
Die Mitbrüder lächelten oder kicherten leise. Bruder Thedo stand so oft vor der Klosterkirche, um Buße zu tun, daß man ihn
beinahe schon als einen Teil der Außenfassade betrachten konnte, als eine lebende und atmende Säule aus fleischgewordener
Reue.
Thedo war enttäuscht. »Ihr seid zu nachsichtig, Vater! In Anbetracht der Schwere meines Vergehens bitte ich Euch, mich eine
Woche lang Buße stehen zu lassen.«
»Gott mag keinen Hochmut, Thedo, nicht einmal in Leid und Schmerz. Denke daran, wenn du ihn bittest, dir deine anderen Verfehlungen
und Schwächen zu vergeben.«
Der Tadel traf ins Schwarze. Thedo errötete und setzte sich.
»Hat noch jemand eine Verfehlung zu beichten?« fragte der Abt.
Bruder Hunric erhob sich. »Ich bin zweimal zu spät zur Komplet gekommen.«
Abt Rabanus Maurus nickte. Ihm war Hunrics anfängliches Fehlen bei der Abendmesse nicht entgangen. Doch Hunric hatte sein
Vergehen offen zugegeben und gar nicht erst versucht, es zu vertuschen oder in einer Ausrede Zuflucht zu suchen. Aus diesem
Grunde kam er mit einer leichten Strafe davon.
»Von heute an bis zum Tag des heiligen Dennis wirst du Nachtwache halten«, sagte der Abt.
|256| Bruder Hunric senkte den Kopf. Das Fest des heiligen Dennis war in zwei Tagen; die nächsten beiden Nächte mußte er also wach
bleiben und beobachten, wie der Mond und die Sterne über den Himmel zogen, damit er den Beginn der achten Nachtstunde – oder
zwei Uhr früh – so genau wie möglich bestimmen und die schlafenden Mitbrüder wecken konnte. Dann nämlich, mit der Feier der
Vigilien – der Frühmesse – begann für die Mönche der neue Tag. Ohne solche Wachen war die strenge Einhaltung der nächtlichen
Gottesdienste nicht möglich; denn die Sonnenuhr war die einzige Möglichkeit der Zeitmessung, und die konnte während der Nachtstunden
naturgemäß nicht benutzt werden.
»Während deiner Wache«, fuhr Rabanus Maurus fort, »wirst du in einem Haufen Nesseln knien und fortwährend beten, auf daß du
ständig an deine Nachlässigkeit erinnert und davon abgehalten wirst, deine Verfehlung durch sündhafte Müdigkeit noch weiter
zu verschlimmern.«
»Ja, Vater Abt.« Bruder Hunric nahm die Strafe ohne Murren hin. Bei einem so schweren Verstoß hätte die Bestrafung noch viel
härter ausfallen können.
Nun erhobenen sich mehrere Brüder nacheinander, um kleinere Vergehen zu beichten – das Zerbrechen von Geschirr im Refektorium
zum Beispiel oder Fehler beim Kopieren im Scriptorium oder Nickerchen beim Gebet. Mit Demut nahmen sie ihre Strafen entgegen.
Als er fertig war, legte Abt Rabanus eine kurze Pause ein, um sicher zu gehen, daß niemand mehr den Wunsch hatte, von sich
aus ein Vergehen zu beichten. Dann fragte er: »Wurden noch irgendwelche Verletzungen der Ordensregeln begangen? Mögen nun
diejenigen sprechen, die solche Verstöße bei anderen beobachtet haben – zum Wohle der Seelen ihrer Brüder.«
Diesen Teil der Zusammenkunft fürchtete Johanna am meisten. Als sie den Blick über die Reihen der Mönche schweifen ließ, fiel
ihr Bruder Thomas auf. Aus seinen schwerlidrigen Augen starrte er sie mit einem Ausdruck unverhohlener Feindseligkeit an.
Johanna rutschte nervös auf ihrem steinernen Sitz hin und her.
Will er mich irgendeines Vergehens
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