Die Päpstin
beschuldigen?
Doch Thomas machte keine Anstalten, sich zu erheben. Statt dessen stand Bruder Odilo auf. Er saß in der Reihe gleich hinter
Thomas.
|257| »Ich habe gesehen, wie Bruder Hugh sich am letzten Fasttag einen Apfel aus dem Obstgarten geholt und ihn gegessen hat.«
Erregt sprang Bruder Hugh auf. »Ich gebe zu, Vater Abt, daß ich den Apfel gepflückt habe; denn es war harte Arbeit, das Unkraut
zu rupfen, und meine Glieder waren müde und schwach. Aber ich habe den Apfel
nicht
gegessen, ehrenwerter Vater! Ich habe nur einen kleinen Bissen davon genommen, um mich zu kräftigen, so daß ich mit der körperlichen
Arbeit weitermachen konnte.«
»Die Schwäche des Fleisches beim
opus manuum
ist keine Entschuldigung für einen Verstoß gegen die Ordensregeln«, erwiderte Abt Rabanus streng. »Sie ist eine Probe, die
von Gott auferlegt wurde, um den Geist der Gläubigen zu prüfen. Wie Eva, die Mutter der Sünde, hast du diese Probe nicht bestanden,
Bruder Hugh – und das ist ein schweres Vergehen, vor allem, da du es nicht von selbst gebeichtet hast. Zur Strafe wirst du
eine Woche lang fasten und bis zum Dreikönigstag auf alle Zubrote verzichten.«
Eine Woche hungern und keine Zubrote – jene kleinen, zusätzlichen Leckerbissen, mit denen das spartanische klösterliche Essen
aus Grüngemüse, Hülsenfrüchten und hin und wieder Fisch ergänzt wurde – und das bis weit nach Weihnachten! Der Verzicht auf
die Leckerbissen war eine besonders schwere Strafe, denn gerade in der Adventszeit, wenn die Gläubigen schuldbewußt auf das
Wohl ihrer unsterblichen Seelen blickten, strömten aus der gesamten Umgegend Nahrungsmittelspenden ins Kloster: Honigkuchen
und Plätzchen, Schinken, Speck und Eier und andere wundervolle Genüsse würden für kurze Zeit die Tische im Refektorium zieren.
Bruder Hugh bedachte Bruder Odilo mit vernichtenden Blicken.
»Des weiteren«, fuhr Abt Rabanus Maurus fort, »wirst du, Bruder Hugh, dich heute abend vor Bruder Odilo zu Boden werfen und
ihm voller Dankbarkeit und Demut die Füße waschen, um ihm zu vergelten, daß er in so brüderlicher Liebe auf dein spirituelles
Wohl achtgegeben hat.«
Bruder Hugh senkte den Kopf. Er würde notgedrungen tun, was der Abt von ihm verlangte, doch Johanna bezweifelte, daß er es
voller »Dankbarkeit und Demut« tat. Meist ist es leichter, dachte sie, eine Buße aufzuerlegen, als den Büßer von deren Notwendigkeit
zu überzeugen.
»Gibt es noch weitere Vergehen, die offenbart werden müssen?« |258| fragte Abt Rabanus. Als niemand sich meldete, fuhr er ernst fort: »Es bekümmert mich zutiefst, euch berichten zu müssen, daß
einer unter uns ist, der sich der schlimmsten aller Sünden schuldig gemacht hat … eines abscheulichen Verbrechens. Denn dieser
Bruder …«
Vor Schreck schlug Johanna das Herz bis zum Hals.
»… hat den heiligen Eid gebrochen, den er vor Gott dem Allmächtigen abgelegt hat.«
Bruder Gottschalk sprang auf.
»Es war der Eid meines Vaters, nicht der meine!« stieß er mit erstickter Stimme hervor.
Gottschalk war ein junger Mann, vielleicht drei oder vier Jahre älter als Johanna, mit lockigem schwarzem Haar und so tiefliegenden
Augen, daß sie wie zwei dunkle Höhlen aussahen. Wie Johanna, war auch Gottschalk ein
oblatus
, der nicht aus freien Stücken ins Kloster gekommen war, sondern den die Familie in die klösterliche Obhut gegeben hatte.
Gottschalk, Sohn eines sächsischen Adeligen, war bereits in frühester Kindheit ins Kloster von Fulda gekommen. Jetzt, als
Erwachsener, wollte er die Bruderschaft verlassen.
»Es ist rechtens, wenn ein christlicher Mann seinen Sohn in die göttliche Obhut gibt«, sagte Abt Rabanus Maurus streng. »Gott
dem Allmächtigen ein solches Geschenk wieder fortzunehmen, wäre eine unverzeihliche Sünde.«
»Ist es keine gleichermaßen unverzeihliche Sünde, einem Menschen ein Leben vorzuschreiben, das wider seine Natur und seinen
Willen ist?«
»Falls ein Mensch, der Gott versprochen ist, sich diesem Willen nicht beugt, wird der Allmächtige sein Schwert schärfen«,
sagte Abt Rabanus unheilschwanger, »den Abtrünnigen seiner gerechten Strafe zuführen und ihn der ewigen Verdammnis anheimfallen
lassen.«
»Das ist kein Glaube, das ist Tyrannenherrschaft!« rief Gottschalk leidenschaftlich.
»Schande!« –»Sünder!« –»Schäm dich, Bruder!« Vereinzelte Rufe der Entrüstung erhoben sich über einen Chor aus Murmeln und
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