Die Päpstin
normalen Zeiten hätte man sie aus dem kaiserlichen
bannum
ausgeschlossen, für das ein abgeleisteter militärischer Dienst die Voraussetzung war. Doch die Zeiten waren nicht normal.
Viele Männer hatte man so hastig aus ihrem gewohnten Leben herausgerissen, daß ihnen kaum eine Stunde geblieben war, ihre
Angelegenheiten zu regeln und sich von ihren Lieben zu verabschieden. Diese Männer nahmen die Hostie ängstlich und zerstreut
entgegen. Sie wußten, daß sie kaum eine Chance hatten, die Schlacht zu überleben; aber sie waren noch nicht bereit zu sterben.
Ihre Gedanken, Sehnsüchte und Wünsche waren noch immer fest auf die Dinge der
diesseitigen
Welt gerichtet – auf ihre Felder und das Vieh, auf die Freunde und Nachbarn, auf die kleinen Sorgen und Freuden des Alltags,
auf das Leben mit ihren Frauen und Kindern – ein Leben, aus dem man diese Männer brutal herausgerissen hatte. Verwirrt und
verängstigt, vermochten sie die schreckliche Tragweite ihres Schicksals noch immer nicht zu begreifen; sie konnten nicht fassen,
daß sie auf diesem fremden Boden kämpfen und sterben sollten – für einen Kaiser, dessen Name bis vor wenigen Tagen nur ein
fernes Echo in ihrem Leben gewesen war. Wie viele von diesen Unschuldigen, fragte sich Gerold, würden am heutigen Tag den
Sonnenuntergang erleben?
|297| »O Herr der Heerscharen«, betete der Bischof zum Abschluß der Messe, »der du alle Gegner bezwingst, der du stets den Sieg
davonträgst, gib uns den Schutz und den Schild deiner Hilfe, o Herr, und gewähre uns das Schwert deines Ruhmes, auf daß unsere
Feinde vernichtet werden. Amen.«
»Amen.« Die Luft erbebte beim Klang tausender Stimmen. Einen Augenblick später schob sich das erste, winzige Stück der aufgehenden
Sonnenscheibe über den Horizont, verströmte sein Licht über das Feld und ließ die Spitzen der Speere und Pfeile wie kostbare
Geschmeide tiefrot funkeln. Ein donnernder Jubelschrei stieg aus rauhen Männerkehlen.
Der Bischof streifte sein Schultertuch ab und reichte es einem der Meßgehilfen. Dann löste er sein Meßgewand und ließ es zu
Boden fallen. Darunter kam die Panzerrüstung eines Soldaten zum Vorschein: die
brunia
– die dicke, mit geschmolzenem Wachs getränkte Jacke aus Leder, an die kleine Platten aus Eisen genäht waren, sowie die
bauga
, die Beinschienen aus Metall.
Der Bischof will also mitkämpfen,
dachte Gerold.
Genaugenommen untersagte es das Bischofsamt, das Blut eines anderen Menschen zu vergießen, doch in der Praxis wurde dieses
fromme Ideal oft ignoriert: Bischöfe und Priester kämpften Seite an Seite mit ihren Königen, wie jeder andere Gefolgsmann
auch.
Einer der Meßgehilfen reichte dem Bischof ein Schwert, in das ein Kreuz graviert war. Der Bischof reckte die Waffe in die
Höhe, so daß deren goldenes Kreuz im Licht der aufgehenden Sonne schimmerte. »Gelobet sei Gott der Herr!« rief er. »Und nun
vorwärts, ihr braven Christenmenschen! Auf in die Schlacht!«
Gerold befehligte den linken Flügel. Er hatte auf der Kuppe eines langgezogenen Hügels Stellung bezogen, der das südliche
Ende des Schlachtfelds bildete. Auf der gegenüberliegenden Seite des Höhenzuges lagen die Truppen, über die Lothars Neffe
Pippin das Kommando führte – ein riesiges, gut bewaffnetes Kontingent aus Aquitaniern. Die Mitte der Streitmacht, die von
Lothar selbst befehligt wurde, hatte unmittelbar hinter den Bäumen Stellung bezogen, die den östlichen Rand des Schlachtfelds
bildeten; diese Truppenteile standen der feindlichen Streitmacht direkt gegenüber.
|298| Gerolds rotbrauner Hengst warf den Kopf in den Nacken und wieherte ungeduldig. Sein Reiter beugte sich vor, rieb mit der Hand
kräftig über den rostfarbenen Hals und besänftigte den Hengst, um die geballte Kraft des Tieres für den Angriff zu bewahren,
der bald erfolgen mußte. »Nicht mehr lange, mein Junge«, murmelte Gerold beruhigend, »nicht mehr lange.«
Er warf einen prüfenden Blick zum Himmel. Es ging auf sechs Uhr, die erste Morgenstunde. Die Sonne, noch tief am Horizont,
schien den Feinden genau in die Augen.
Gut,
dachte Gerold.
Das ist schon mal ein Vorteil, den wir nutzen können
. Ungeduldig schaute er zu Lothar hinüber und wartete auf das Zeichen zum Angriff. Doch eine Viertelstunde verging, und das
Zeichen blieb aus. Die feindlichen Armeen standen sich zu beiden Seiten des Feldes gegenüber und hielten einander über die
riesige grüne Grasfläche
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