Die Päpstin
hinweg wachsam im Auge. Eine weitere Viertelstunde verging. Dann noch eine. Und noch eine.
Gerold trieb seinen Hengst an und ritt den Hügel hinunter bis zu den vordersten Linien der Vorhut. Dort, unter einem Himmel
aus flatternden Bannern, saß Lothar auf seinem Streitroß.
»Warum zögert Ihr, Majestät? Die Männer werden unruhig. Sie wollen endlich angreifen.«
Verärgert spähte Lothar seine lange Nase entlang zum Feind hinüber. »
Ich
bin der Kaiser. Es ziemt sich nicht, daß ich zu meinen Feinden gehe. Sie sollen gefälligst zu mir kommen!« Der Kaiser mochte
Gerold nicht; für Lothars Empfinden besaß der Markgraf einen zu eigenständigen und unabhängigen Geist – zweifellos eine Folgeerscheinung
der vielen Jahre, die Gerold unter den Heiden und Barbaren im hohen Norden des Reiches verbracht hatte.
»Aber, mein König! Wir müssen die tiefstehende Sonne nutzen. Noch ist dieser Vorteil auf unserer Seite. In einer Stunde haben
wir ihn nicht mehr.«
»Vertraut auf Gott, Graf Gerold«, erwiderte Lothar hochmütig. »Ich bin der vom Herrn gesalbte König; der Allmächtige wird
mir den Sieg nicht verwehren.«
Lothars Stimme hatte einen Beiklang von Endgültigkeit, und Gerold erkannte, daß weitere Diskussionen überflüssig waren. Er
verbeugte sich steif, wendete sein Pferd und ritt zurück auf den Hügelkamm.
|299| Vielleicht hatte Lothar recht, und Gott hatte tatsächlich die Absicht, ihnen den Sieg zuzusprechen. Aber durfte Gott nicht
auch ein kleines bißchen Hilfe von den Menschen erwarten?
Es ging auf zehn Uhr am Vormittag; die Sonne stand hoch am Himmel.
Verdammt,
fluchte Gerold in sich hinein.
Was, um Himmels willen, denkt Lothar sich eigentlich?
Sie warteten jetzt seit beinahe vier Stunden. Die Sonne brannte nun erbarmungslos auf die eisernen Panzer und Helme hinunter
und heizte das Metall so sehr auf, daß die Männer sich vor Unbehagen wanden, während der Schweiß ihnen über die Körper lief.
Wer sich erleichtern mußte, der mußte es an Ort und Stelle tun; denn niemand durfte die Formation verlassen. Schwer lag der
Geruch nach Exkrementen und Schweiß in der drückenden, von keinem Windhauch bewegten Luft.
In Anbetracht dieser beschwerlichen Lage beobachtete Gerold voller Erleichterung das Eintreffen eines Trupps aus Dienern,
die Weinfässer auf die Hügelkuppe brachten. Gerolds Männern war heiß, und sie wurden von brennendem Durst gequält, so daß
ein Becher kräftiger Wein jetzt genau das richtige war, um ihre zunehmend gedrückte Stimmung zu heben. Laute Jubelrufe ertönten,
als die Diener durch die Reihen gingen und jedem Soldaten einen Becher mit schwerem fränkischem Wein reichten. Auch Gerold
trank einen Becher und fühlte sich gleich sehr viel besser. Doch er gestattete weder sich selbst noch seinen Soldaten mehr
als einen Becher: Ein kräftiger Schluck Wein konnte den Mut eines Mannes heben; zu viel Wein jedoch machte ihn leichtsinnig
und unbesonnen, so daß er zu einer Gefahr für sich selbst und seine Kameraden wurde.
Lothar jedoch zeigte keine solchen Bedenken. Großmütig ermunterte er die Männer seiner Vorhut, weiter zu trinken. Bald darauf
ertönten grölende Rufe, derbe Scherze und wildes Gelächter. Die Männer der Vorhut prahlten mit ihrer Waffenkunst, während
sie versuchten, sich in eine gute Position zu bringen. Beim Kampf um die Ehre, in vorderster Reihe stehen zu dürfen, stolperten
die Männer übereinander, schubsten und stießen sich wie ungeratene Jungen – und genau das waren sie im Grunde auch; denn abgesehen
von einer Handvoll erfahrener Veteranen zählten die meisten Soldaten nicht mehr als achtzehn Jahre.
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»Sie kommen! Sie kommen!«
Der Ruf durchraste die Reihen. Das feindliche Heer rückte vor, zuerst noch langsam und bedächtig, damit die Fußsoldaten und
Bogenschützen sich möglichst nahe bei den Berittenen halten konnten, die dicht vor ihnen gegen den Feind zogen. Es war ein
majestätischer, feierlicher Anblick, der eher an eine religiöse Prozession erinnerte als an den Beginn einer Schlacht.
In Lothars Vorhut herrschte derweil ein wildes, hektisches Durcheinander. Männer krochen umher oder stießen und schubsten
einander, um an ihre verstreut am Boden liegenden Speere und Schwerter, Schilde und Helme zu gelangen. Kaum hatten sie halbwegs
Ordnung in ihre Reihen gebracht, ging die Reiterei des Feindes zum Angriff über und kam mit erschreckender Geschwindigkeit
näher; der Boden
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