Die Päpstin
Straßen und Plätzen in einem bunten und erregenden Gemisch verschiedenster Kleidungen, Sitten und Sprachen. Vergangenheit
und Gegenwart, Heidentum und Christentum waren ineinander verwoben und bildeten einen prachtvollen, farbenfrohen Wandteppich.
In diesen uralten Mauern hatten sich das Beste und das Schlechteste, das Schönste und Häßlichste aus aller Herren Länder vereint.
In Rom fand Johanna jene Welt voller Abenteuer und neuer Möglichkeiten, nach der sie so lange gesucht hatte.
Die meiste Zeit verbrachte sie in Borgo, wo sich die verschiedenen
scolae
und Wohnviertel der Ausländer befanden. Sofort nach ihrem Eintreffen in Rom hatte Johanna sich zuerst zur Scola Francorum
begeben, jedoch keinen Zutritt erhalten; denn es wimmelte in diesem Viertel von Pilgern und fränkischen Einwanderern. Deshalb
begab Johanna sich zur Scola Anglorum; ihr angenommener Nachname »Anglicus« sowie die Tatsache, daß sie väterlicherseits von
englischen Ahnen abstammte, sorgten dafür, daß ihr ein freundlicher Empfang bereitet wurde.
Die Tiefe und Breite ihrer Ausbildung brachten ihr bald den Ruf eines hervorragenden Gelehrten ein. Aus ganz Rom kamen Theologen
zur
scola
, um wissenschaftliche Gespräche mit ihr zu führen; sie alle wurden von ehrfürchtiger Scheu erfüllt, was den Umfang ihres
Wissens, die Schärfe und Klarheit ihres Verstandes und ihre unbestechliche Logik bei gelehrten Disputen betraf.
Wie bestürzt diese Männer gewesen wären, hätten sie gewußt, daß sie von einer Frau übertrumpft worden sind!
dachte Johanna mit einem stillen Lächeln.
Zu ihren regelmäßigen Pflichten gehörte die Teilnahme als |336| Hilfspriester an der täglichen Messe in der Kirche Sankt Michael, einer kleinen Kapelle, die der
scola
angeschlossen war. Nach dem Mittagsmahl und einem kurzen Nickerchen (denn es war im Süden üblich, während der heißesten Stunden
des Mittags zu ruhen) begab Johanna sich ins Hospital, wo sie den Rest des Tages damit verbrachte, sich um die Kranken zu
kümmern. Ihr Wissen um die Heilkunst, das sie von Bruder Benjamin erworben hatte, kam ihr jetzt hervorragend zustatten, zumal
die medizinische Wissenschaft nirgendwo sonst auf der Welt so weit fortgeschritten war wie im Frankenreich. Die Römer wußten
nur wenig über die Heilkräfte von Kräutern und anderen Pflanzen; und Methoden wie das Betrachten des Urins beispielsweise,
um Krankheiten zu bestimmen und zu behandeln, waren ihnen gänzlich unbekannt. Johannas Heilerfolge bewirkten, daß sie zu einem
der begehrtesten und meistbeschäftigten Ärzte der Stadt wurde.
Es war ein reges und ausgefülltes Leben, das perfekt auf Johanna zugeschnitten war; denn es bot ihr die Möglichkeit, ein klösterliches
Leben zu führen, ohne dessen Nachteile in Kauf nehmen zu müssen: Sie konnte ihre Intelligenz gebrauchen, ohne Mißtrauen zu
erregen oder Einschränkungen befürchten zu müssen; sie hatte Zugang zur Bibliothek der
scola
– einer kleinen, aber feinen Sammlung von mehr als fünfzig Bänden – , ohne daß jemand ihr über die Schulter blickte, um sich
davon zu überzeugen, daß sie nicht statt Augustinus die Schriften Ciceros oder Suetons las; sie konnte kommen und gehen, wann
sie wollte, ohne jemanden um Erlaubnis bitten zu müssen. Sie war in ihrem Denken völlig frei und konnte sich zu den verschiedensten
Themen äußern, ohne befürchten zu müssen, sich verdächtig zu machen oder gar ausgepeitscht zu werden. Die Tage waren ausgefüllt
mit interessanter und sinnvoller Arbeit, und die Zeit ging rasch vorüber.
Vielleicht wäre Johannas Leben so still und friedlich geblieben, wäre Sergius, der neu gewählte Papst, nicht erkrankt.
Seit Septuagesima, dem dritten Vorfastensonntag, hatte der Papst unter verschiedenen unbestimmbaren, jedoch besorgniserregenden
Krankheitssymptomen gelitten: Verdauungsstörungen; Schlaflosigkeit; geschwollene, kraftlose Gliedmaßen. Kurz vor Ostern kamen
heftige, beinahe unerträgliche Schmerzen hinzu. Nacht für Nacht wurden sämtliche Bewohner |337| des Lateranpalastes von Sergius’ Schreien am Schlaf gehindert.
Die
scola
der römischen Ärzte schickte eine Abordnung ihrer fähigsten Mitglieder in den Lateranpalast, um sich des erkrankten Papstes
anzunehmen. Sie versuchten mit den verschiedensten Mitteln und Methoden, eine Heilung zu erzielen: Sie brachten ein Bruchstück
des Schädelknochens vom heiligen Polykarp an Sergius’ Krankenbett, damit der Papst ihn
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