Die Päpstin
Isidor von Sevillas
Etymologiarum
, und von Salvianus’
De gubernatore dei
. Außerdem die vollständigen
Commentarii
des Geronimus mit herrlich kunstvollen Illustrationen. Und Ihr findet dort ein ganz besonders schönes Exemplar des
Hexameron
meines Landmannes Aelfric.«
»Gibt es dort auch Abschriften der Werke des Plato?«
»Plato?« Der Dorfpriester war schockiert. »Bestimmt nicht. Seine Schriften sind kein angemessenes Studium für einen Christen.«
»Ach, meint Ihr? Dann meßt Ihr Platos Werk über die Logik keine Bedeutung bei?«
|46| »Ich finde, es gehört ins Trivium, in den niederen Teil der freien Künste«, erwiderte der Dorfpriester unbehaglich, »und es
ist allenfalls als Hilfsmittel beim Studium
wirklich
wertvoller Schriften wie denen des Boethius von Nutzen. Der Glaube gründet sich auf die Autorität der Heiligen Schrift und
nicht auf die Beweise der Logik. Mitunter erschüttern die Menschen ihren Glauben lediglich aus närrischer Neugierde.«
»Ich verstehe, was Ihr meint.« Aus Aeskulapius’ Worten sprach eher Höflichkeit als Zustimmung. »Aber vielleicht könnt Ihr
mir dann folgende Frage beantworten: Wie kommt es, daß der Mensch zu vernünftigem Denken fähig ist?«
»Das vernünftige Denken ist der Funke des göttlichen Wesens im Menschen. ›Gott schuf also den Menschen als sein Abbild; als
Abbild Gottes schuf er ihn.‹«
»Ihr versteht Euch ausgezeichnet darauf, die Heilige Schrift auszulegen. – Demnach würdet Ihr mir zustimmen, daß die Fähigkeit
zum vernünftigen Denken von Gott gegeben ist?«
»Ganz gewiß.«
Johanna kroch näher heran, kam aus den Schatten hervor, die von der Trennwand geworfen wurden. Sie wollte nicht versäumen,
was Aeskulapius als nächstes sagte.
»Weshalb fürchtet Ihr Euch dann, den Glauben im Licht der Vernunft zu betrachten? Und was ist Logik anderes als streng vernunftbestimmtes
Denken? Gott selbst hat uns die Vernunft gegeben. Wie könnte sie uns da von ihm wegführen?«
Johanna hatte ihren Vater noch nie so unbehaglich dreinschauen sehen. Er war Missionar und dafür ausgebildet, aus der Bibel
zu lesen und zu predigen, doch im verbalen Schlagabtausch bei logischen Streitgesprächen war er nicht geschult. Er öffnete
den Mund, um zu antworten; dann schloß er ihn wieder.
»Ist es nicht gar so«, fuhr Aeskulapius fort, »daß das
Fehlen
des Glaubens die Menschen dazu bringt, sich vor der Prüfung eines Sachverhalts durch logisches Nachdenken zu fürchten? Falls
die Bestimmung zweifelhaft ist, muß der Weg voller Furcht sein. Ein fester Glaube braucht keine Furcht; denn falls es Gott
gibt, kann die Vernunft uns nur zu ihm führen.
Cogito, ergo Deus est
, sagte der heilige Augustin.
Ich denke; also gibt es Gott.
«
Johanna folgte dem Gespräch dermaßen gespannt, daß sie alles um sich herum vergaß und bei Aeskulapius’ Bemerkung |47| voller bewunderndem Begreifen einen leisen, erstaunten Ruf ausstieß. Ihr Vater blickte scharf zu der Trennwand hinüber, und
Johanna zog sich hastig in die Schatten zurück, wartete und wagte kaum zu atmen, bis sie wieder das Stimmengemurmel hörte.
Dann kroch sie zurück zur strohgedeckten Pritsche, auf der Johannes lag und leise schnarchte.
Noch lange Zeit nachdem die Gespräche der Männer verstummt waren, lag Johanna wach in der Dunkelheit. Sie fühlte sich unglaublich
beschwingt und frei, als wäre ein drückendes Gewicht von ihr genommen. Matthias’ Tod war nicht
ihre
Schuld gewesen. Ihr Verlangen nach Wissen, ihr Wunsch zu lernen hatten ihn nicht das Leben gekostet – mochte ihr Vater sagen,
was er wollte. Heute abend, als sie Aeskulapius zuhörte, hatte Johanna entdeckt, daß ihre Liebe zum Wissen weder sündhaft
noch wider die Natur war, sondern eine unmittelbare Folge der dem Menschen von Gott geschenkten Fähigkeit, logisch und vernunftbestimmt
zu denken.
Ich denke; also gibt es Gott
. Im Herzen spürte Johanna die Wahrheit, die in diesem Zitat lag.
Aeskulapius’ Worte hatten ein Licht in ihrer Seele entfacht.
Vielleicht kann ich morgen mit ihm reden,
ging es ihr durch den Kopf.
Vielleicht bekomme ich die Möglichkeit, ihm zu zeigen, daß ich lesen kann.
Diese Aussicht war so aufregend, daß Johanna an nichts anderes mehr denken konnte. Erst im Morgengrauen schlief sie ein.
Am nächsten Morgen wurde Johanna in aller Frühe von der Mutter in den Wald geschickt, um Eicheln und Bucheckern als Futter
für die Schweine zu sammeln. Da Johanna so schnell wie
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