Die Päpstin
er zu der Ansicht
gelangt, daß es das Beste sei, sich der Gnade seines Bruders zu unterwerfen. Sergius war ein durch und durch sanftmütiger
Mensch – eine Schwäche, die Benedikt verachtete. Nun aber hoffte er, sie zu seinem Vorteil nutzen zu können.
Er ließ sich auf die Knie fallen und streckte dem Bruder in einer flehenden Geste die gefesselten Hände entgegen. »Vergib
mir, Sergius. Ich habe gesündigt, und ich bereue aufrichtig und demütig meine Untat.«
Doch Benedikt hatte nicht einkalkuliert, welche Wirkung der Wein auf den Charakter seines Bruders hatte. Sergius’ Gesicht
lief dunkelrot an, als er von einem unerwarteten Zornesausbruch gepackt wurde. »Verräter!« rief er. »Gauner! Dieb!« Er untermalte
jedes Wort mit einem donnernden Faustschlag auf die Tischplatte, so daß die Teller und Becher tanzten und klirrten.
Benedikt erbleichte. »Bruder, ich flehe dich an …« »Schafft ihn mir aus den Augen!« befahl Sergius.
»Wohin sollen wir ihn bringen, Heiligkeit?« fragte Tarasius.
Sergius drehte sich der Kopf; es fiel ihm schwer, einen klaren Gedanken zu fassen. Er wußte nur, daß man ihn verraten hatte,
und er wollte zurückschlagen, um zu verletzen, so, wie man ihn verletzt hatte. »Er ist ein Dieb!« sagte er voller Bitterkeit.
»Also soll er auch wie ein Dieb bestraft werden!«
»Nein!« brüllte Benedikt, als die Wächter ihn packten. »Sergius!
Bruder!«
Das letzte Worte hallte noch immer nach, als er aus dem Saal gezerrt wurde.
Plötzlich verlor Sergius’ Gesicht alle Farbe, und er fiel |395| schwer in den Stuhl. Er verdrehte die Augen; sein Kopf ruckte nach hinten, und seine Arme und Beine begannen unkontrolliert
zu zittern.
»Es ist der böse Blick!« rief jemand. »Benedikt hat ihn verhext!« Die anderen Gäste schrien vor Entsetzen auf und bekreuzigten
sich zum Schutz gegen die boshaften Umtriebe des Teufels.
Johanna rannte zwischen den vollbesetzten Tischen und den schreckensstarren Dienern hindurch, bis sie an Sergius’ Seite gelangte.
Sein Gesicht lief blau an. Johanna packte seinen Kopf und zerrte seine zusammengepreßten Kiefer auseinander. Die schlaffe
Zunge war Sergius nach hinten in den Rachen gefallen und verstopfte die Luftröhre. Hastig nahm Johanna ein Messer vom Tisch,
steckte Sergius das stumpfe Ende in den Mund, schob es hinter die nach innen gerollte Zunge und zog. Es gab ein saugendes
Geräusch; dann löste sich die Zunge und schnellte vor. Keuchend holte Sergius Luft und begann wieder zu atmen. Johanna drückte
das Messer behutsam auf die Zunge, damit die Luftröhre freiblieb. Nach kurzer Zeit ließ der Krampf nach. Sergius gab ein dumpfes
Stöhnen von sich und wurde schlaff.
»Bringt ihn ins Bett«, befahl Johanna. Mehrere Diener hoben Sergius aus dem Stuhl und trugen ihn zur Tür, während die Sitzenden
sich neugierig nach vorn beugten und den Weg versperrten. »Macht Platz! Macht Platz!« rief Johanna, als der besinnungslose
Papst aus dem Saal getragen wurde.
Als sie das päpstliche Schlafgemach erreichten, war Sergius wieder bei Bewußtsein. Johanna flößte ihm Essig ein, mit schwarzem
Senf vermischt, so daß er sich erbrach. Anschließend fühlte er sich erheblich besser. Johanna gab ihm sicherheitshalber eine
starke Dosis Colchicum, das sie mit Mohnsaft vermischte, so daß er in einen tiefen Schlaf fiel.
»Er wird bis morgen schlafen«, sagte sie zu Arighis.
Der Haushofmeister nickte. »Ihr seht erschöpft aus.«
»Ich
bin
ziemlich erschöpft«, gab Johanna zu. Es war ein langer Tag gewesen, und sie hatte sich immer noch nicht von den zwei Wochen
Kerkerhaft erholt.
»Ennodius und die anderen Mitglieder der ärztlichen Gesellschaft warten draußen. Sie möchten Euch wegen des erneuten Zusammenbruchs
seiner Heiligkeit befragen.«
|396| Johanna seufzte. Sie fühlte sich der Aufgabe, einen Hagel feindseliger Fragen abwehren zu müssen, nicht gewachsen, doch es
ließ sich offenbar nicht vermeiden. Mit schweren Schritten ging sie zur Tür.
»Einen Augenblick.« Arighis winkte sie zu sich. Er ging auf die andere Seite des Zimmers und hob einen der Bildteppiche an;
dann drückte er auf die hölzerne Wand darunter. Sie glitt zur Seite, und eine Öffnung von etwa einem Meter Breite kam zum
Vorschein.
»Was, um alles in der Welt, ist das?« stieß Johanna verwundert hervor.
»Ein Geheimgang«, erklärte Arighis. »Zu Zeiten der heidnischen Kaiser erbaut – für den Fall, daß sie rasch vor ihren
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