Die Päpstin
hier«, sagte Johanna. Sie führte Gerold zu dem kleinen Zimmer, in dem sie ihre Kräuter und Arzneien aufbewahrte. Drinnen
zündete sie die Öllampe an; flackernd erwachte die Flamme zum Leben und umschloß die beiden Menschen mit einem sanften, gelben
Kreis aus Licht.
|401| Dann blickten sie einander schweigend an, noch immer von tiefem Staunen erfüllt, sich nach so langer Zeit wiederzubegegnen.
Siebzehn Jahre waren vergangen, seit sie sich das letzte Mal gesehen hatten, und Gerold hatte sich verändert: Sein dichtes
rotes Haar wies die ersten grauen Strähnen auf, und um seine blauen Augen und den breiten, sinnlichen Mund lagen neue Falten,
doch er war immer noch der schönste Mann, den Johanna je gesehen hatte. Sein Anblick ließ ihr Herz schneller schlagen.
Gerold trat einen Schritt auf sie zu, und dann lagen sie sich in den Armen und hielten einander so fest, daß Johanna durch
den dicken Stoff ihres Priestergewands das harte Metall von Gerolds Kettenpanzer spürte.
»Johanna«, flüsterte er bewegt und streichelte ihr übers Haar. »Mein Schatz. Ich hätte nie gedacht, dich noch einmal wiederzusehen.«
»Gerold.« Das Wort füllte ihr Inneres vollkommen mit Gefühlen aus und verdrängte alle anderen Gedanken.
Behutsam fuhr er mit dem Finger über die dünne Narbe auf ihrer linken Wange. »Die Normannen?«
»Ja.«
Er beugte sich nieder und küßte die Narbe sanft; seine Lippen waren warm auf ihrer Wange. »Dann haben sie damals auch dich
entführt? Dich und … Gisla?«
Gisla.
Gerold durfte es nie erfahren. Sie durfte ihm niemals erzählen, welch schreckliches Schicksal seiner ältesten Tochter im Innern
des Domes von Dorstadt widerfahren war.
»Die Normannen haben nur Gisla entführt. Ich … konnte entkommen.«
Er blickte sie erstaunt an. »Aber wie? Und wohin? Meine Männer und ich haben die ganze Gegend nach dir abgesucht, ohne eine
einzige Spur zu finden.«
Mit knappen Worten erzählte Johanna ihm, was geschehen war – so viel, wie sie ihm in der Kürze der Zeit und unter diesen schwierigen
Umständen berichten konnte: von ihrer Flucht nach Fulda und ihrer Aufnahme in die Bruderschaft, als Johannes Anglicus; von
der Beinahe-Aufdeckung ihrer Identität und dem knappen Entkommen aus dem Kloster; von ihrer Pilgerreise nach Rom und ihrem
Aufstieg zum Leibarzt des Papstes.
»Und in der ganzen Zeit«, sagte Gerold langsam, nachdem |402| Johanna geendet hatte, »hast du nie daran gedacht, mir eine Botschaft zukommen zu lassen?«
Johanna hörte den Schmerz und die tiefe Verwunderung in seiner Stimme. »Ich … ich dachte, du wolltest mich nicht. Richild
sagte mir, es wäre deine Idee gewesen, mich mit dem Sohn des Hufschmieds zu verheiraten, und daß du sie gebeten hättest, sich
um die Sache zu kümmern.«
»Und das hast du ihr geglaubt?« Abrupt ließ er sie los. »Großer Gott, Johanna, hast du mich wirklich nicht besser gekannt?«
»Ich … ich wußte nicht, was ich davon halten sollte. Du warst fort … und ich konnte mir nicht sicher sein, weshalb. Und Richild
… sie wußte Bescheid über uns. Sie wußte, was am Flußufer geschehen war. Wie aber hätte sie davon wissen können, wenn du es
ihr nicht gesagt hättest?«
»Ich habe keine Ahnung. Ich weiß nur, daß ich nie einen Menschen so sehr geliebt habe wie dich.« Seine Stimme schwankte. »Ich
hätte mein Pferd damals beinahe zuschanden geritten, um nach Villaris zu gelangen. Denn ich wußte ja, dort warst
du,
und ich konnte es vor Ungeduld kaum ertragen, dich wiederzusehen … dich zu fragen, ob du meine Frau werden willst.«
»Deine Frau?« fragte Johanna benommen. »Aber … Richild …?«
»Während ich fort war, ist irgend etwas geschehen – etwas, das mir geholfen hat, zu erkennen, wie trist und leer die Ehe für
Richild und mich gewesen ist und wie wichtig du für mein Glück warst. Ich war heimgekehrt, um mich von Richild scheiden zu
lassen und dich zu heiraten, wenn du mich wolltest.«
Johanna schüttelte den Kopf. »So viele Mißverständnisse«, sagte sie traurig. »So viel Leid. So viel versäumtes Glück.«
»So viel«, sagte Gerold, »das wir noch nachholen können.« Er zog sie an sich und küßte sie. Es war so, als würde man eine
Schreibtafel aus Wachs über ein Feuer halten: Was die Jahre geschrieben hatten, wurde aufgelöst und schmolz dahin, und sie
beide standen wieder im Frühlingssonnenschein am Ufer des Flusses unterhalb des Hügels von Villaris, jung, übermütig
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