Die Päpstin
Gestern nacht waren längst vergessen geglaubte Empfindungen wiedererwacht – mit einer Kraft, die Johanna gleichermaßen
erstaunte wie verängstigte.
Gerolds Rückkehr hatte das beunruhigende Verlangen ihrer Jugend wieder zum Leben erweckt. Wie mag es wohl sein, wieder |407| als Frau zu leben? fragte sich Johanna. Sie war es gewöhnt, eigenverantwortlich zu handeln; sie hatte die unumschränkte Gewalt
über ihr eigenes Schicksal. Doch von Rechts wegen mußte eine Frau ihr Leben vollkommen in die Hände ihres Gatten legen. Konnte
sie jemandem so sehr vertrauen, und sei es Gerold?
Gib dich nie einem Mann hin
. – Die Worte ihrer Mutter erklangen wie warnende Glockenschläge in ihrem Innern.
Sie brauchte Zeit, mit dem Aufruhr fertig zu werden, den die widerstreitenden Gefühle in ihrem Herzen ausgelöst hatten. Doch
Zeit gehörte zu jenen Dingen, die sie nicht besaß.
Arighis erschien neben ihr. »Kommt«, sagte er drängend und zog sie aus der Schlange der Wartenden. »Seine Heiligkeit braucht
Euch.«
»Geht es ihm
so
schlecht?« fragte Johanna besorgt, während sie Arighis den Gang hinunter folgte, der zum Schlafgemach des Papstes führte.
Johanna runzelte die Stirn. Sie hatte Sergius gestern abend ein Brechmittel gegeben; die fetten Speisen und der Wein waren
längst aus seinem Körper, und die hohe Dosis Colchicum hätte normalerweise jeden neuerlichen Gichtanfall verhindern müssen.
»Es geht ihm in der Tat schlecht«, beantwortete Arighis Johannas Frage. »Es macht ihm schwer zu schaffen.«
»Was
macht ihm schwer zu schaffen?«
»Benedikt ist tot.«
»Was!«
»Das Urteil wurde heute morgen vollstreckt. Er war sofort tot.«
»Großer Gott!« Johanna schritt schneller aus. Sie konnte sich vorstellen, welche Wirkung diese Nachricht auf Sergius hatte.
Dennoch war sie entsetzt, als sie ihn zu Gesicht bekam. Sergius war kaum wiederzuerkennen. Sein Haar war wirr; die Augen rot
und geschwollen vom Weinen, und er hatte sich die Wangen blutig gekratzt. Er kniete neben dem Bett, schaukelte vor und zurück
und wimmerte wie ein kleines Kind.
»Heiligkeit!« sagte Johanna ihm mit scharfer Stimme ins Ohr. »Sergius!«
Er schaukelte weiter, blind und taub vor Kummer. Es war offensichtlich, daß man in seinem derzeitigen Zustand nicht mit |408| ihm reden konnte. Johanna nahm ein Fläschchen Bilsenkrauttinktur aus ihrem Ranzen, tröpfelte eine bestimmte Menge auf einen
Löffel und hielt ihn Sergius an die Lippen. Geistesabwesend schluckte er das Mittel.
Nach einer Weile wurden seine Bewegungen langsamer; dann hielt er ganz inne und blickte Johanna an, als hätte er sie nie zuvor
gesehen.
»Weine um mich, Johannes. Meine Seele ist verdammt bis in alle Ewigkeit.«
»Unsinn«, erwiderte Johanna mit fester Stimme. »Ihr habt genau das getan, was das Gesetz verlangt.«
Sergius schüttelte den Kopf. »›Du sollst nicht sein wie Kain; denn in ihm war das Böse, und er tötete seinen Bruder‹«, zitierte
er.
»Und weshalb hat er ihn getötet? Weil Kains Taten böse waren, die seines Bruders dagegen rechtschaffen«, antwortete Johanna.
»Benedikt aber war nicht rechtschaffen, Heiligkeit. Er hat Euch und Rom verraten.«
»Und jetzt ist er tot, weil ich es so befohlen habe! O Gott!« Er schlug sich klagend an die Brust und jammerte vor Seelenqual.
Johanna mußte einen Weg finden, Sergius von seinem Kummer abzubringen, oder er würde sich in einen neuerlichen Anfall hineinsteigern.
Sie packte ihn fest bei den Schultern und sagte: »Ihr müßt die Ohrenbeichte ablegen.«
Diese Form des Sakraments der Buße und Versöhnung – der Betreffende legte eine vertrauliche und ordentliche Beichte
ad auriculum
ab, »für das Ohr« eines Priesters –, war im fränkischen Reich weit verbreitet. Doch in Rom hielt man immer noch starr am Althergebrachten
fest: Die Beichte wurde öffentlich abgelegt, wie auch die Buße öffentlich verhängt wurde, und zwar nur einmal im Leben.
Sergius ließ sich Johannas Vorschlag durch den Kopf gehen; dann sagte er: »Ja. Ja, ich werde beichten.«
»Dann werde ich einen der Kardinäle zu Euch bitten«, erwiderte Johanna. »Soll ich jemand Bestimmten schicken?«
»Ich werde meine Beichte vor dir ablegen.«
»Vor mir?« Einem einfachen Priester und obendrein einem Ausländer? Johanna war eine unpassende Kandidatin, dem Papst als Beichtvater
– oder besser, als Beichtmutter – zu dienen. »Seid Ihr sicher?«
|409| »Ich möchte keinen anderen.«
»Also gut.«
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