Die Päpstin
Die Mönche des Klosters San Giovanni knieten in einer dichten Gruppe beieinander; die schwarzen Kapuzen waren ihnen
von den Köpfen gerutscht, und sie hatten die Arme gen Himmel erhoben. Einige von ihnen rissen sich die Kutten vom Leib und
fügten sich mit großen Holzsplittern tiefe Wunden zu; es war der verzweifelte Versuch, den offenkundigen Zorn Gottes zu besänftigen.
Von diesem erschreckenden Anblick verängstigt, fingen Kinder zu weinen und zu schreien an; ihre schrillen Stimmen erhoben
sich über den gespenstischen Chor aus Klagen, Beten und Stöhnen.
Hilf ihnen,
hatte Sergius Johanna gebeten.
Bereite sie vor.
Aber wie?
Johanna stieg die Stufen der Mauer hinauf. Sie nahm das kleine Kruzifix, das Sergius hatte fallen lassen, und reckte es hoch
empor. Das Sonnenlicht wurde von den Edelsteinen gebrochen, und das Kreuz funkelte in einem goldenen Regenbogen.
»Hosanna in excelsis«,
begann Johanna mit lauter Stimme, und die Worte des heiligen Lobgesanges klangen über die Menge hinweg, stark und fest und
überzeugt. Diejenigen, die der Mauer am nächsten standen, wandten die tränenüberströmten Gesichter dem vertrauten Klang zu.
Priester und Mönche knieten sich auf das Kopfsteinpflaster, zwischen Steinmetzen und Näherinnen und Kaufleute; sie erhoben
die Stimmen und fielen ein.»
Christus qui venit in nomine Domini …«
Wieder ertönte ein lautes Krachen, gefolgt vom Geräusch splitternden Holzes. Unter den Stößen des Rammbocks wölbten die Torflügel
sich immer weiter nach innen. Licht fiel durch die Ritzen, die sich im Holz gebildet hatten.
Großer Gott,
dachte Johanna.
Wenn sie nun durchbrechen?
Bis zu diesem Augenblick war ihr eine solche Möglichkeit undenkbar erschienen.
Erinnerungen durchfluteten Johanna. Sie sah, wie die Normannen |427| durch die Türen der Kathedrale zu Dorstadt stürmten und ihre Äxte schwangen … Sie hörte die schrecklichen Schreie der Sterbenden
… Sie sah ihren Bruder Johannes mit eingeschlagenem Schädel tot am Boden liegen … und Gisla … Gisla …
Ihre Stimme schwankte; dann verstummte sie. Die Menschen schauten voller Panik zu ihr hinauf.
Mach weiter,
ermahnte sie sich.
Mach weiter!
Doch ihr Verstand war wie gelähmt; sie konnte sich nicht an die Worte erinnern.
»Hosanna in excelsis.«
Ein tiefer Bariton erklang hinter Johanna. Es war die Stimme von Kardinal Leo von Santi Quattro Coronati, der neben Johanna
zur Mauerkrone hinaufgestiegen war. Beim Klang seiner festen Stimme fiel alle Furcht von ihr ab, und gemeinsam sprachen sie
den Lobgesang.
»Für Gott und Sankt Peter!« Ein donnernder Ruf erklang aus dem Osten.
Die Wachen auf den Mauern fielen sich jubelnd in die Arme. »Gelobet sei der Herr! Wir sind gerettet!«
Johanna blickte über die Mauer hinweg. Eine gewaltige Armee näherte sich der Stadt; auf den flatternden Bannern der Berittenen
waren die Wappen von Sankt Peter und das Kreuz Christi zu sehen.
Die Sarazenen ließen die Rammböcke fallen und stürmten zu ihren Pferden.
Johanna schaute blinzelnd gegen die Sonne. Als die fremden Truppen näher rückten, stieß sie einen plötzlichen, scharfen Schrei
aus.
An der Spitze der Vorhut – groß, gewaltig und in martialischer Pracht, wie einer der alten sächsischen Kriegsgötter –, ritt
Gerold, die Lanze zum Angriff gesenkt.
Die entbrennende Schlacht war wild und grausam. Doch schließlich gelang es den Beneventanern, die Sarazenen von den Stadtmauern
zu vertreiben; die Flüchtenden wurden über die gesamte Campagna hinweg bis ans Meer verfolgt. An der Küste angelangt, warfen
die Sarazenen die geraubten Schätze an Bord ihrer Schiffe und setzten eiligst Segel. Ihr Aufbruch war so hastig, daß sie eine
Vielzahl kleinerer Einheiten zurückließen. In den darauffolgenden Wochen ritten Gerold und seine Männer die Küste hinauf und
hinunter und machten Jagd auf diese verstreuten Banden von Plünderern.
Rom war gerettet. Die Bewohner der Stadt waren zwischen |428| Freude und Verzweiflung hin und her gerissen – Freude über ihre Befreiung, Verzweiflung ob der Zerstörung von Sankt Peter;
denn der Dom war dermaßen rücksichtslos geplündert worden, daß man ihn nicht mehr wiedererkannte. Das alte goldene Kreuz über
dem Grab des Apostels war verschwunden, wie auch der prächtige silberne Tisch mit dem Relief der Stadt Byzanz, ein Geschenk
Karls des Großen. Die Ungläubigen hatten die Silberverkleidungen von den Türen und die goldenen Fliesen vom
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