Die Päpstin
Abordnung zog sich über die Via Lata in den Sonnenschein und die frische, gesunde Luft des kapitolinischen
Hügels zurück.
»Wir müssen das Marcianische Aquädukt wiederaufbauen«, sagte Johanna, als sie am nächsten Morgen mit den
optimates
zu einer Besprechung zusammentraf.
Paschal, der
primicerius,
hob erstaunt die Brauen. »Der Wiederaufbau oder die Errichtung eines christlichen Bauwerks wäre ein angemessenerer Beginn
Eures Pontifikats.«
»Was brauchen die Armen noch mehr Kirchen?« entgegnete Johanna. »In Rom gibt es Kirchen im Überfluß. Aber ein Aquädukt wiederaufzubauen
könnte unzählige Leben retten.«
»Dieses Vorhaben ist riskant«, sagte Viktor, der
sacellarius
. »Und es könnte gut sein, daß es gar nicht durchführbar ist.«
Viktor hatte recht; Johanna konnte es nicht leugnen. Das Aquädukt wiederaufzubauen, wäre eine gewaltige Aufgabe, ein vielleicht
sogar unmögliches Unterfangen, legte man die spärlichen architektonischen Kenntnisse der Zeit zugrunde. Die Bücher, die das
gesammelte Wissen der antiken Baumeister enthielten, die derart komplizierte Konstruktionen wie das Aquädukt geschaffen hatten,
waren schon Jahrhunderte zuvor verlorengegangen oder vernichtet worden; man hatte die pergamentenen |491| Seiten mit den unersetzlichen Bauplänen sauber geschabt, um christliche Predigten und Geschichten aus dem Leben der Heiligen
und Märtyrer darauf zu schreiben.
»Wir müssen es versuchen«, sagte Johanna entschlossen. »Wir dürfen nicht zulassen, daß Menschen weiterhin in so schrecklichen
Verhältnissen leben.«
Die anderen schwiegen – nicht, weil sie mit Johanna einer Meinung waren, sondern weil es unhöflich gewesen wäre, dem Heiligen
Vater noch länger zu widersprechen, wo sein Herz so offenkundig an diesem Plan hing.
Nach einer kurzen Pause des Schweigens fragte Paschal: »Und wer soll beim Wiederaufbau des Aquädukts die Aufsicht führen,
Heiligkeit?«
»Gerold«, erwiderte Johanna schlicht. »Ich gehe davon aus, daß der
superista
sich beim Bau der Leoninischen Mauer umfassende Kenntnisse über die Architektur erworben hat. Außerdem können wir uns an den
funktionstüchtigen Aquädukten ein Beispiel nehmen und überdies wieder jene Arbeiter verpflichten, die schon einmal unter Gerold
gearbeitet haben. – Seid Ihr mit dem Vorschlag einverstanden, die Aufsicht über dieses Bauvorhaben zu übernehmen, Gerold?
Ich wüßte keinen Menschen, der befähigter dazu wäre als Ihr.«
Sie schaute ihn erwartungsvoll an, und er nickte ihr lächelnd zu.
»Dann bezweifle ich nicht, daß uns Erfolg beschieden sein wird«, sagte Johanna.
Nach und nach erkannte Johanna in vollem Umfang, was es bedeutete, Papst zu sein. Nominell eine der höchsten Machtstellungen
auf Erden, war dieses Amt in Wahrheit mit umfassenden priesterlichen Aufgaben verbunden. Johannas Zeit wurde von einer Vielzahl
mühseliger liturgischer Pflichten vollkommen in Anspruch genommen. Am Palmsonntag segnete und verteilte sie vor der Peterskirche
Palmwedel. Am Gründonnerstag wusch sie den Armen die Füße und trug ihnen eigenhändig eine Mahlzeit auf. Am Fest des heiligen
Antonius stand sie vor der Kirche Santa Maria Maggiore und besprenkelte die Ochsen, Pferde und Maultiere, die von ihren Besitzern
herbeigetrieben worden waren, mit Weihwasser. Am dritten Sonntag nach Advent segnete sie durch Handauflegen die Anwärter auf
das Amt des Priesters, des Diakons oder des Bischofs.
|492| Jeden Tag mußte sie die Messe lesen. Außerdem fanden die sogenannten Stationen statt, die Gottesdienste des Papstes an besonderen
Tagen, wobei riesige Prozessionen langsam durch die Stadt zu den Titularkirchen zogen, in denen dann die Messe gefeiert wurde;
unterwegs wurde immer wieder haltgemacht, so daß Johanna sich Bittsteller anhören und den Segen spenden konnte. Diese Prozessionen
sowie die Gottesdienste nahmen den größten Teil eines Tages in Anspruch – und es gab nicht weniger als neunzig solcher Stationsmessen,
einschließlich der Marienfeste, der Quatemberfasten, der Christmette, der Septuagesima- und Sexagesimasonntage sowie die meisten
Sonn- und Feiertage während der Fastenzeit.
Dann gab es die Feiertage zu Ehren der Heiligen Petrus, Paulus, Laurentius, Agnes, Johannes, Thomas, Lukas, Andreas und Antonius
sowie das Fest Mariä Geburt, Mariä Empfängnis, Mariä Verkündigung und Mariä Himmelfahrt. Dies waren die festen oder unbeweglichen
Feiertage, die jedes
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