Die Päpstin
die Wahrheit sagen, so möge Gott mich auf der Stelle zerschmettern.«
Gespanntes Schweigen folgte diesen Worten. Niemand rührte sich; niemand gab einen Laut von sich.
Nichts geschah.
Schließlich trat Anastasius vor und stellte sich neben Daniel. »Ich erbiete mich als
sacramentale
für diesen Mann«, verkündete er.
Johanna wurde bang ums Herz. Anastasius hatte auf ihren Schwur mit einem perfekten Gegenschlag pariert, indem er sich auf
das Recht des
coniuratio
berufen hatte, nach dem die Schuld oder Unschuld eines Beklagten durch eine Probe bewiesen werden konnte, bei der es darauf
ankam, welche der gegnerischen Parteien die größere Anzahl von
sacramentales
oder »Eideshelfern« auf ihrer Seite hatte, um die jeweilige Aussage zu untermauern.
Sofort erhob Arsenius sich aus seinem Stuhl und trat neben den Sohn. Dann kamen die übrigen langsam nach vorn, einer nach
dem anderen, und gesellten sich zu ihnen, darunter Jordanes, der
secundicerius,
der sich gegen Johanna gestellt hatte, als es um die Errichtung der Schule für Frauen gegangen war. Auch der
sacellarius
Viktor schlug sich auf Anastasius’ Seite.
Reumütig dachte Johanna an Gerolds wiederholte Ermahnungen, höflicher mit ihren Gegnern zu verfahren. Doch in |535| ihrem Eifer, noch möglichst viele Dinge zu Ende zu führen, bevor sie Rom verließ, hatte sie Gerolds Ratschlag nicht die gebotene
Aufmerksamkeit geschenkt. Nun bekam sie die Quittung dafür.
»Ich werde als
sacramentale
für Gerold dienen«, erhob eine Stimme sich plötzlich klar und deutlich aus dem hinteren Teil des Saales.
Johanna und die anderen beobachteten, wie Raduin, der stellvertretende Kommandeur der päpstlichen Garde, sich mit Schultern
und Ellbogen einen Weg durch die Menge bahnte. Dann nahm er standhaft neben Gerold Aufstellung. Raduin wiederum ermunterte
andere, seinem Beispiel zu folgen: Binnen kurzer Zeit kam Juvianus, der Kammerdiener, nach vorn, gefolgt von den Kardinälen
Josef und Theodor, sechs Diözesanbischöfen sowie mehreren Dutzend Angehörigen des niederen Klerus, die ihrer größeren Nähe
zum Volk wegen besser zu schätzen wußten, was Johanna für sie getan hatte. Der Rest der Versammelten hielt sich zurück; sie
waren nicht bereit, sich auf die eine oder andere Seite zu schlagen.
Als alle, die sich für eine der gegnerischen Parteien entschieden hatten, nach vorn gekommen waren, wurde die Zählung vorgenommen:
dreiundfünfzig Männer standen auf Gerolds Seite, vierundsiebzig auf Daniels.
Lothar räusperte sich und verkündete: »Das Urteil Gottes ist uns hiermit offenbar. Tritt vor,
superista,
und nimm dein Urteil entgegen.«
Die Wächter wollten Gerold packen, doch er schüttelte sie ab. »Die Anklage beruht auf einer Lüge, mögen noch so viele Männer
einen Meineid leisten, um sie zu stützen«, sagte er. »Ein Gottesurteil soll über meine Schuld oder Unschuld entscheiden, wie
es mir von Rechts wegen zusteht.«
Johanna zog scharf den Atem ein. Hier, im südlichen Teil des Kaiserreiches, wurde das Gottesurteil durch Feuer vollzogen,
nicht durch Wasser. Ein Angeklagter mußte barfuß über eine fünf Meter lange Reihe aus weißglühenden Pflugscharen gehen. Falls
er es bis auf die andere Seite schaffte, war seine Unschuld erwiesen. Doch nur wenige Menschen überlebten diese Folterqualen.
Durch den Saal übermittelten Gerolds indigoblaue Augen Johanna eine stumme, drängende Botschaft:
Versuche nicht, mich aufzuhalten.
|536| Er wollte sich für sie opfern! Falls er den Weg über die glühenden Eisen schaffte, war seine – und ihre – Unschuld bewiesen.
Aber dieser Beweis würde Gerold höchstwahrscheinlich das Leben kosten.
Genau wie Hrotrud,
ging es der verzweifelten Johanna durch den Kopf – und im selben Moment durchfuhr sie eine Eingebung.
Aeskulapius.
Ciceros
De inventione …
»Bevor wir fortfahren«, sagte sie, »möchte ich dem
magister militum
einige Fragen stellen.«
»Fragen?« Lothar runzelte die Stirn.
»Das ist vollkommen unnötig!« protestierte Anastasius. »Wenn der
superista
den Wunsch hat, sich dem Gottesurteil zu unterziehen, ist das sein gutes Recht. Oder zweifelt Ihr, Heiligkeit, an der Gültigkeit
des göttlichen Richterspruches?«
Gelassen erwiderte Johanna: »Ganz und gar nicht. Ebensowenig wie ich an der Gültigkeit von Ergebnissen zweifle, die das vernunftbestimmte
Denken hervorbringt – ist es doch eine Fähigkeit, die dem Menschen von
Gott
gegeben wurde. Was kann es da
Weitere Kostenlose Bücher