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Die Päpstin

Titel: Die Päpstin Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Aufbau
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behutsam wieder mit den Leinenstreifen umwickelt hatte. Dann verbarg sie es unter
     der dicken Strohschicht auf ihrer Seite des Bettes, das sie mit Johannes teilte.
    Sie brannte darauf, mit dem Lesen zu beginnen, die Wörter zu sehen und mit dem geistigen Ohr wieder die wundervolle Schönheit
     dieser Dichtkunst zu hören. Aber es war zu gefährlich; normalerweise hielt sich im Innern oder in der Nähe des Grubenhauses
     stets jemand auf, und Johanna hatte Angst, das Buch könnte entdeckt werden. Doch eines Tages, als der Zeitpunkt ihr geeignet
     erschien, riskierte sie es. Sie holte das Buch aus seinem Versteck und brachte es nahe ans Fenster zum Licht. Sie hörte nicht,
     wie ihr Bruder zurückkam, bis er plötzlich die Tür aufstieß. Es war ein knappes Entrinnen: In ihrer Hast, das Buch zu verstecken,
     zerriß Johanna eine der Seiten. Tagelang betrauerte sie den Schaden.
    Die einzige Gelegenheit zum ungestörten Lesen bot sich in der Nacht. Wenn alle schliefen, konnte sie lesen, ohne befürchten
     zu müssen, daß plötzlich jemand erschien. Aber sie brauchte Licht – ein bißchen Öl oder besser noch eine Kerze. Die Familie
     bekam von der Kirche aber nur zwei Dutzend Kerzen im Jahr – der Dorfpriester weigerte sich, Kerzen aus dem Sanktuarium zu
     nehmen –, und diese wurden sorgfältig aufbewahrt. Es war unmöglich für Johanna, die Kerzen unbemerkt zu benutzen. Doch im
     Lagerschuppen der Kirche gab es einen großen Vorrat an Wachs, das die Bewohner Ingelheims jedes Jahr an die Kirche liefern
     mußten. Wenn Johanna sich ein bißchen davon besorgte, konnte sie sich ihre eigene Kerze fertigen.
    Es war nicht einfach, doch schließlich gelang es ihr, genug Wachs zu stibitzen, um sich eine kleine Kerze zu drehen, wobei
     sie einen Leinenfaden als Docht verwendete. Es war eine behelfsmäßige Lichtquelle, denn die Flamme war kaum mehr als ein Flackern;
     aber das Licht war hell genug zum Lesen.
    |76| In der ersten Nacht war Johanna vorsichtig. Sie wartete noch lange Zeit, nachdem die Eltern in ihr Bett hinter der Abtrennung
     gegangen waren und sie das Schnarchen des Dorfpriesters hörte; dann erst wagte sie sich zu rühren. Sie schlüpfte aus dem Bett,
     leise und wachsam wie ein Rehkitz und vorsichtig darauf bedacht, Johannes nicht zu wecken, der neben ihr lag. Er schlief tief
     und fest, den Kopf unter den Decken vergraben. Behutsam zog Johanna das Buch aus seinem Versteck im Stroh hervor und trug
     es zu ihrem kleinen Schreibpult aus Fichtenholz in der entfernten Ecke des Raumes. Dann ging sie mit der Kerze zum Herd und
     zündete sie in den glühenden Holzscheiten an.
    Nachdem sie zum Schreibpult zurückgekehrt war, hielt sie die Kerze nahe an das Buch. Das Licht war schwach und flackerte unregelmäßig,
     doch mit einiger Mühe konnte Johanna die Zeilen aus schwarzer Tinte entziffern. Die kleinen, regelmäßigen Buchstaben tanzten
     verlockend und einladend im flackernden Licht. Kurz hielt Johanna inne und genoß den Augenblick. Dann blätterte sie die Seite
     um und begann zu lesen.
     
    Die warmen Tage und kalten Nächte des Wintarmanoth, des Monats der Weinlese, zogen rasch vorüber. Die strengen
nordostroni-
Winde kamen früher als gewöhnlich und jagten in heftigen, klirrend kalten Böen aus Nordosten über das Land. Wieder einmal
     wurde das Fenster des Grubenhauses vernagelt, doch die eisigen Winde fuhren durch die Ritzen und Spalten. Damit es im Haus
     warm blieb, mußten sie das Herdfeuer den ganzen Tag brennen lassen, so daß das Grubenhaus von rußigem Rauch erfüllt war.
    Jede Nacht, nachdem die Familie schlief, stand Johanna auf und studierte stundenlang in schummrigem Licht den Text, bis die
     Kerze schließlich heruntergebrannt war, so daß Johanna voller Ungeduld warten mußte, bis sie sich genug Wachs aus dem Lagerschuppen
     der Kirche besorgt hatte, um sich eine neue Kerze zu drehen. Als sie ihre nächtlichen Lesestunden endlich wieder aufnehmen
     konnte, trieb sie sich selbst unerbittlich voran. Sie las das ganze Buch durch und begann sofort wieder von vorn. Diesmal
     studierte sie die komplizierten Beugungen der Verben und schrieb umständlich Beispiele auf ihre Tafel, bis sie die Konjugationen
     auswendig beherrschte. Ihre |77| Augen waren gerötet, und ihr Kopf schmerzte von der anstrengenden Arbeit bei dem schlechten Licht, doch der Gedanke, mit ihren
     Studien aufzuhören, wäre ihr niemals gekommen. Johanna war glücklich.
    Das Fest des heiligen Kolumban Ende November kam und

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