Die Päpstin
ging vorüber, und noch immer hörte Johanna kein Wort, erhielt keine Nachricht
über irgendwelche Vereinbarungen, die Aeskulapius der formellen Weiterführung ihrer Ausbildung wegen getroffen hatte. Doch
Johanna glaubte fest daran, daß ihr alter Lehrer sein Versprechen halten würde. Solange sie das Buch von ihm besaß, gab es
keinen Grund zur Verzweiflung. Irgendwann und irgendwo würde sie weiterstudieren, Neues lernen, Fortschritte machen. Ganz
bestimmt würde sich bald irgend etwas tun. Vielleicht kam ein Tutor ins Dorf und erkundigte sich nach ihr, oder sie wurde
gar zum Bischof gerufen, wo man ihr dann mitteilte, daß sie in die
scola
aufgenommen würde.
Nach und nach ließ Johannas Wachsamkeit nach. Jede Nacht fing sie ein bißchen früher zu lesen an. Mitunter wartete sie nicht
einmal mehr, bis sie ihren Vater schnarchen hörte. Und als sie ein bißchen Wachs auf ihr Schreibpult verspritzte, merkte sie
es nicht einmal.
Eines Nachts wollte sie sich mit einem besonders schwierigen und interessanten Problem der Satzlehre beschäftigen. Voller
Ungeduld, endlich anfangen zu können, setzte sie sich an ihr Schreibpult, kaum daß die Eltern zu Bett gegangen waren. Sie
hatte erst ein paar Minuten gearbeitet, als sie hinter der Abtrennung einen gedämpften Laut hörte.
Rasch blies Johanna die Kerze aus und saß reglos wie ein Stein in der Dunkelheit. Sie lauschte angespannt, spürte ihren heftigen
Pulsschlag in der Kehle.
Einige Augenblicke verrannen. Kein weiteres Geräusch ertönte. Sie mußte es sich vorhin eingebildet haben. Erleichterung durchströmte
sie wie eine Woge aus wohliger Wärme. Dennoch ließ sie längere Zeit verstreichen, bis sie es wagte, sich vom Schreibpult zu
erheben, zum Herd zu gehen, die Kerze wieder anzuzünden und sich erneut ans Pult zu setzen.
Ein kalter Windstoß fuhr durch die Ritzen und ließ die Kerzenflamme heller erstrahlen, so daß sie einen kleinen Kreis aus
Licht um das Schreibpult warf. Am Rande dieses Kreises – dort, wo das Licht mit dem Schatten verschmolz – sah Johanna ein
Paar Füße.
|78| Die Füße ihres Vaters.
Der Dorfpriester trat aus der Dunkelheit hervor. Instinktiv versuchte Johanna, das Buch vor ihm zu verstecken, doch es war
zu spät.
Sein grobes Gesicht, vom flackernden Kerzenschein von unten beleuchtet, sah gräßlich aus, furchterregend.
»Was tust du so verstohlen in der Nacht? Und was ist das dort auf dem Tisch?«
Johannas Stimme war nur noch ein Flüstern. »Ein Buch.«
»Ein Buch!« Er starrte es an, als könnte er seinen Augen nicht trauen. »Wie bist du daran gekommen? Und was tust du damit?«
»Ich lese darin. Es … es gehört mir. Aeskulapius hat es mir geschenkt. Es ist meins.«
Der wuchtige Schlag ihres Vaters traf Johanna völlig unerwartet ins Gesicht und schleuderte sie vom Stuhl. Wie ein Häuflein
Elend lag sie da; der lehmige Fußboden war kühl an ihrer Wange.
»Sooo? Dein Buch? Du unverschämtes Balg!
Ich
bin der Herr in diesem Hause!«
Johanna stützte sich auf einen Ellbogen und beobachtete hilflos, wie ihr Vater sich über das Buch beugte und im trüben Licht
mit blinzelnden Augen versuchte, den Text zu entziffern. Dann, nach einigen Sekunden, ging ein plötzlicher Ruck durch seine
Gestalt, und er bekreuzigte sich über dem Schreibpult Johannas. »Jesus Christus, bewahre uns vor dem Bösen.« Ohne den Blick
von dem Buch zu nehmen, winkte er Johanna zu sich. »Komm her.«
Johanna mühte sich auf die Beine. Sie war benommen, und in ihren Ohren vernahm sie ein schmerzhaftes Klingeln. Langsam ging
sie zum Vater hinüber.
»Dies ist nicht die Sprache der heiligen Mutter Kirche.« Er zeigte auf die Seite, die aufgeschlagen vor ihm lag. »Was haben
diese Zeichen zu bedeuten? Gib mir eine ehrliche Antwort, Kind, wenn deine unsterbliche Seele dir etwas bedeutet!«
»Das ist Dichtkunst, Vater.« Trotz ihrer Angst und des Schmerzes verspürte Johanna eine Aufwallung von Stolz ob ihres Wissens.
Sie wagte es nicht, hinzuzufügen, daß die Verse von Homer stammten, den ihr Vater als gottlosen Heiden betrachtete. Der Dorfpriester
beherrschte kein Griechisch. Falls er nicht die zweite Hälfte des Buches aufschlug und den lateinischen |79| Text las, würde er vielleicht gar nicht bemerken, was Johanna getan hatte.
Der Dorfpriester legte dem Mädchen beide Hände auf den Kopf. Er besaß die kräftigen, derben Pranken eines Bauern, und seine
Finger waren so groß und lang, daß sie den
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