Die Päpstin
Kopf Johannas vollkommen umspannten und bis tief in die Stirn reichten.
»Exorcizo te, creatura mali, in nomine Dei patris omnipotentis.«
Seine Hände packten kräftiger zu, drückten Johannas Kopf so fest, daß sie vor Angst und Schmerz aufschrie.
Gudrun erschien in der Tür. »Bei allen Heiligen, mein Gatte, was ist geschehen? Was tust du mit dem Kind? Hör auf, ich flehe
dich an!«
»Sei still!« brüllte der Dorfpriester. »Das Kind ist besessen! Der Dämon in ihrem Innern muß ausgetrieben werden.« Der Druck
seiner Hände nahm weiter zu, bis Johanna das Gefühl hatte, die Augen würden ihr platzen.
Gudrun packte den Arm ihres Mannes. »Hör auf! Sie ist nur ein Kind! Hör endlich auf! Oder willst du sie in deinem Wahnsinn
umbringen?«
Der furchtbare Druck verschwand abrupt, als der Dorfpriester seinen Griff löste. Er wirbelte herum, und mit einem einzigen
wilden Schlag schleuderte er Gudrun bis auf die gegenüberliegende Seite des Raumes. »Fort mit dir!« donnerte er. »Jetzt ist
nicht die rechte Zeit für weibische Schwäche! Ich habe das Mädchen dabei ertappt, wie es des Nachts bösen Zauber wirkte! Mit
dem Buch einer Hexe! Sie ist besessen!«
»Nein, Vater, nein!« schrie Johanna. »Das ist keine Hexerei! Das ist Dichtkunst! Verse, geschrieben in griechischer Sprache!
Es ist nichts Böses! Ich schwöre es!«
Er streckte die Hand nach Johanna aus, doch sie duckte sich unter seinem Arm hinweg und war mit drei, vier raschen Schritten
hinter ihm. Er drehte sich um und stapfte auf sie zu. In seinen Augen loderte eine tödliche Drohung.
Er würde sie umbringen.
»Vater! Schau dir die zweite Hälfte an! Die zweite Hälfte des Buches! Sie ist in Latein geschrieben! Du wirst es sehen! Es
ist in Latein!«
Der Dorfpriester zögerte. Rasch stürzte Gudrun zum Pult, nahm das Buch und brachte es ihm. Er schaute es nicht einmal an.
Er starrte auf Johanna, einen nachdenklichen Ausdruck auf dem düsteren Gesicht.
|80| »Bitte, Vater. Wirf einen Blick in den zweiten Teil des Buches. Diesen Text kannst auch du lesen. Es ist keine Hexerei!«
Der Dorfpriester nahm Gudrun das Buch aus der Hand. Sie rannte zum Pult, holte die Kerze und hielt sie so nahe an die Buchseite,
daß er die Schrift lesen konnte. Der Dorfpriester beugte sich nieder, um das Buch zu betrachten. Seine Stirn war in tiefer
Konzentration gerunzelt, so daß die dichten dunklen Brauen sich fast berührten.
Johanna redete verzweifelt auf ihn ein. »Ich habe gelernt. Ich habe nachts in dem Buch gelesen, damit keiner etwas merkt.
Ich wußte, du würdest es nicht gutheißen, Vater.« Sie war bereit, alles zu sagen, alles zu gestehen – Hauptsache, er glaubte
ihr. »Es ist von Homer. Die Ilias. Homers Verse über den Trojanischen Krieg. Es ist keine Hexerei, Vater«, sie begann zu schluchzen,
»keine … Hexerei.«
Der Dorfpriester hörte ihr gar nicht zu. Er las konzentriert, die Augen dicht über der Seite, wobei seine Lippen lautlos die
Worte bildeten. Nachdem er eine Zeitlang gelesen hatte, schaute er auf.
»Gelobet sei Gott der Herr. Es ist keine Zauberei. Aber es ist das Werk eines gottlosen Heiden und deshalb eine Versündigung
gegen den Herrn.« Er schaute Gudrun an. »Schüre das Feuer. Diese Scheußlichkeit muß vernichtet werden.«
Johanna holte keuchend Luft. Das Buch verbrennen? Aeskulapius’ wunderschönes Buch, das er ihr geschenkt hatte?
»Vater, das Buch ist wertvoll! Es würde viel Geld einbringen. Wir könnten es verkaufen und einen guten Preis dafür erzielen,
oder …« – ihre Gedanken drehten sich wild im Kreis – »… oder du könntest es dem Bischof geben als Geschenk für die Dombibliothek.«
»Verderbtes Kind! Du bist so tief in der Sünde versunken, daß es ein Wunder des Herrn ist, daß du noch nicht darin ertrunken
bist. Diese Abscheulichkeit ist kein passendes Geschenk für den Bischof – noch für jede andere gottesfürchtige Seele.«
Gudrun ging in die Ecke, in der das Holz gelagert wurde, und suchte mehrere kleine Scheite heraus. Wie betäubt beobachtete
Johanna, was geschah. Sie mußte eine Möglichkeit finden, das Schreckliche zu verhindern. Wenn doch nur der furchtbare Kopfschmerz
nachließe! Dann könnte sie besser nachdenken.
|81| Gudrun stocherte in den Holzscheiten und rüttelte die glühende Asche glatt, um die frischen Scheite darauflegen zu können.
Und das Buch.
»Halt. Warte noch«, wandte der Dorfpriester sich plötzlich an seine Frau. »Laß das
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