Die Päpstin
Gürtel überhaupt weggenommen worden?
Quando, ubi:
Wann und wo wurde der Gürtel weggenommen? Hat jemand Hrotrud tatsächlich mit diesem Gürtel gesehen?«
Cur:
Weshalb hätte Hrotrud Arno etwas Böses antun sollen? Johanna redete vor Aufregung schneller, als ihr klar wurde, welche Erklärungsmöglichkeiten
dieser Gedankengang eröffnete. »Man hätte Zeugen aufrufen und sie befragen können. Auch Hrotrud und Arno … man hätte auch
die beiden vernehmen können. Ihre Antworten und die der Zeugen hätten Hrotruds Unschuld beweisen können. Und …«, schloß Johanna
reumütig, »sie hätte nicht zu sterben brauchen, um diesen Beweis zu erbringen.«
Sie bewegten sich auf gefährlichem Boden, und sie wußten es beide. Schweigend saßen sie beieinander. Johanna war überwältigt
von der Größe des gedanklichen Konzepts, das ihr so schlagartig deutlich geworden war: Die Anwendung der Logik auf die göttliche
Offenbarung; die Möglichkeit einer Gerechtigkeit auf Erden, bei der die Postulate des christlichen Glaubens durch logisch
bestimmte Überlegungen geleitet wurden und der Glaube durch die Kraft der Vernunft Unterstützung fand.
Aeskulapius sagte: »Es wäre wohl besser, wir erwähnen deinem Vater gegenüber nichts von diesem Gespräch.«
Das Fest des heiligen Bertin war gerade vorüber. Die Tage wurden kürzer, und damit auch – notwendigerweise – Aeskulapius’
Unterricht. Die Sonne stand schon tief am Himmel, als Aeskulapius sich am Ende eines Unterrichtstages erhob.
»So, Kinder. Das reicht für heute.«
»Darf ich jetzt gehen?« fragte Johannes. Aeskulapius winkte ihm, das Zimmer zu verlassen, und der Junge sprang vom Stuhl und
stürmte durch die Tür.
|72| Reumütig lächelte Johanna ihren Lehrer an. Es war ihr peinlich, daß ihrem Bruder der Unterricht so offensichtlich mißfiel.
Aeskulapius war oft ungeduldig, was Johannes betraf, und manchmal war er streng zu ihm. Der Junge war aber auch ein langsamer
und unwilliger Schüler. »Das schaffe ich nie!« jammerte er stets, kaum daß er auf ein neues Problem stieß. Manchmal hätte
Johanna ihn am liebsten geschüttelt und ihn angeschrien: »Versuch es! Versuch es wenigstens! Woher willst du wissen, daß du
es nicht schaffst, wenn du es nicht wenigstens versuchst!«
Nachher machte Johanna sich solcher Gedanken wegen stets Vorwürfe. Johannes konnte ja nichts dafür, daß er so langsam war.
Außerdem – wäre er nicht gewesen, hätte es in den vergangenen zwei Jahren keine einzige Unterrichtsstunde von Aeskulapius
gegeben, und ein Leben ohne Unterricht war für Johanna unvorstellbar geworden.
Kaum hatte Johannes den Raum verlassen, sagte Aeskulapius ernst: »Ich muß dir etwas sagen. Mir wurde mitgeteilt, daß meine
Dienste an der
scola
nicht mehr gebraucht werden. Ein anderer Gelehrter, ein Franke, hat sich um die Stelle als Lehrmeister beworben, und der Bischof
hält ihn für geeigneter als mich.«
Johanna konnte es nicht fassen. »Das kann doch nicht sein! Wer ist dieser Mann? Es ist völlig unmöglich, daß er soviel weiß
wie Ihr!«
Aeskulapius lächelte. »Dieses Lob zeugt von Treue, aber nicht von Klugheit. Ich habe den Mann kennengelernt. Er ist ein hervorragender
Gelehrter, und seine Interessengebiete decken sich besser als die meinen mit den Lehren, die an dieser
scola
verbreitet werden.« Als er sah, daß Johanna seine Worte nicht begriffen hatte, fügte er hinzu: »Es gibt einen Ort für die
Art von Wissen, das wir gemeinsam angestrebt haben, Johanna, und dieser Ort befindet sich nicht im Innern einer Kathedrale.
Denk immer daran, was ich dir jetzt sage, und sei auf der Hut: manche Gedanken sind gefährlich.«
»Ich verstehe«, erwiderte Johanna, obwohl sie kein Wort verstand. »Aber … aber was werdet Ihr jetzt tun? Wovon werdet Ihr
leben?«
»Ich habe einen Freund in Athen, einen Landsmann. Er hat es als Händler zu einigem Erfolg gebracht. Er möchte, daß ich der
Privatlehrer seiner Kinder werde.«
|73| »Ihr wollt uns verlassen?« Johanna konnte nicht glauben, was er sagte.
»Mein Freund ist ein reicher Mann. Sein Angebot ist großzügig. Und mir bleibt kaum eine andere Wahl, als anzunehmen.«
»Soll das heißen, Ihr geht nach Athen?« Es war so schrecklich weit fort. »Wann werdet Ihr abreisen?«
»In einem Monat. Wärst du nicht gewesen und hätte unsere gemeinsame Arbeit mir nicht soviel Freude gemacht, wäre ich schon
abgereist.«
»Aber …« In Johannas Kopf wirbelten
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