Die Päpstin
die Gedanken wild umher. Sie versuchte verzweifelt, sich irgend etwas einfallen zu lassen,
um dieses schreckliche Ereignis abzuwenden. »Ihr könntet hier wohnen … hier, bei uns. Ihr könntet als unser Tutor arbeiten,
als Johannes’ und mein Lehrer. Dann könnten wir jeden Tag Unterricht halten!«
»Das ist unmöglich, mein Kleines. Dein Vater besitzt kaum genug Geld, sich und seine Familie über den Winter zu bringen, und
das weißt du. An eurem Tisch und Herd ist kein Platz für einen Fremden. Außerdem muß ich an einen Ort, an dem ich meine eigenen
Studien weiterführen kann. Der Zugang zur Bibliothek der Kathedrale ist mir nicht mehr gestattet.«
»Geht nicht fort.« Trauer stieg in Johanna auf wie eine greifbare Substanz und bildete einen harten Knoten in ihrer Kehle.
Den Tränen nahe, wiederholte sie: »Bitte, geht nicht fort.«
»Ich muß gehen, mein liebes Mädchen. Auch wenn ich ehrlich und aufrichtig möchte, es wäre anders.« Zärtlich streichelte er
Johannas weißgoldenes Haar. »Dich zu lehren hat auch mich vieles gelehrt. Eine Schülerin wie dich werde ich nie wieder bekommen.
Du hast einen unglaublich scharfen Verstand, Johanna. Er ist ein Wunder, ein Geschenk Gottes, und du darfst ihn niemals verleugnen.«
Er schaute sie bedeutungsvoll an. »Wie hoch der Preis dafür auch sein mag.«
Johanna wagte nicht zu sprechen, aus Furcht, ihre Stimme könnte ihre Gefühle verraten.
Aeskulapius nahm ihre Hand in die seine. »Sei nicht traurig. Du wirst deine Studien bald fortsetzen können. Ich werde alles
in die Wege leiten. Ich weiß noch nicht, wie oder wo oder bei wem du lernen wirst – aber ich werde dafür sorgen, daß es so
sein wird. Dein Verstand ist zu kostbar, als daß man ihn brachliegen lassen dürfte. Wir werden die richtigen Senfkörner |74| finden und einsäen, auf daß später einmal wunderschöne Bäume des Geistes daraus wachsen, das verspreche ich dir.« Er packte
ihre Hand fester. »Du kannst dich auf mich verlassen.«
Nachdem er gegangen war, rührte Johanna sich nicht von ihrem kleinen Schreibpult. Sie saß allein in der zunehmenden Dunkelheit,
bis ihre Mutter mit Holzscheiten für den Herd hereinkam.
»Oh, seid ihr fertig?« sagte Gudrun. »Gut! Dann komm und hilf mir, das Feuer zu entfachen.«
Am Tag seiner Abreise kam Aeskulapius ein letztes Mal zu Johanna, in seinen langen blauen Reiseumhang gekleidet. Er hielt
ein Paket in den Händen, das in Leinen gewickelt war.
»Das ist für dich, Johanna«, sagte er und drückte ihr das Paket in die Arme.
Johanna legte es zu Boden und wickelte die Streifen aus Leinen ab. Als sie dann sah, was das Paket enthielt, verschlug es
ihr den Atem. Es war ein Buch, auf morgenländische Art zwischen Holzdeckel gebunden, die mit Leder bespannt waren.
»Dieses Buch hat mir gehört«, sagte Aeskulapius. »Ich habe es vor einigen Jahren selbst kopiert. Es sind die Werke des Homer
– die erste Hälfte ist die griechische Originalfassung und die zweite Hälfte die Übersetzung ins Lateinische. Das Buch wird
dir helfen, dein Wissen über diese Sprachen zu bewahren und zu mehren, bis du deine Studien wieder aufnehmen kannst.«
Johanna war sprachlos. Ein eigenes Buch! Eine solche Vergünstigung wurde für gewöhnlich nur Mönchen oder hervorragenden Gelehrten
von höchstem Rang zuteil. Johanna schlug das Buch auf und betrachtete Zeile um Zeile von Aeskulapius’ überaus gleichmäßiger
Handschrift. Die Buchstaben und Worte füllten die Seiten mit unaussprechlicher Schönheit. Aeskulapius beobachtete Johanna,
und in seinen Augen lag ein Ausdruck wehmütiger Zärtlichkeit.
»Vergiß nicht, Johanna. Vergiß niemals.«
Er breitete die Arme aus. Sie kam zu ihm, und zum erstenmal umarmten sie sich. Lange Zeit standen sie da, das Mädchen und
der Mann, und Aeskulapius’ hohe, breite Gestalt barg die kleine und zierliche Johannas. Als sie sich schließlich trennten,
war Aeskulapius’ blauer Umhang feucht von den Tränen Johannas.
|75| Sie schaute nicht zu, als er davonritt. Sie blieb da, wo er sie verlassen hatte, hielt das Buch in den Armen und packte es
so fest, daß ihre Hände schmerzten.
Johanna wußte, daß der Vater ihr nicht erlauben würde, das Buch zu behalten. Er hatte ihre Studien nie gutgeheißen, und nun,
da Aeskulapius fort war, gab es niemanden mehr, der den Dorfpriester daran hindern konnte, seinen Willen durchzusetzen. Deshalb
versteckte Johanna das Buch, nachdem sie es
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