Die Päpstin
von den alten Liedern vor.«
Johanna wandte das Gesicht ab.
»Überlasse Dinge wie Bücher der Dummheit der Priester. Wir haben unsere eigenen Geheimnisse, nicht wahr, meine kleine Wachtel?
Wir werden sie wieder miteinander teilen, so, |88| wie es früher gewesen ist.« Zärtlich streichelte sie Johanna über die Stirn. »Aber zuerst mußt du wieder gesund werden. Deshalb
mußt du ein bißchen von der Brühe essen. Es ist ein sächsisches Rezept; es sind starke Heilkräuter darin.«
Sie hielt dem Mädchen den Holzlöffel an die Lippen. Johanna war zu schwach, als daß sie Widerstand hätte leisten können; deshalb
ließ sie zu, daß die Mutter ihr ein bißchen von der Brühe in den Mund tröpfelte. Sie schmeckte gut; sie war dick und warm
und wohltuend. Wider Willen fühlte Johanna sich ein kleines bißchen besser.
»Meine kleine Wachtel … mein Süßes … mein Schatz.« Gudruns Stimme liebkoste Johanna sanft und zärtlich. Sie tauchte den Holzlöffel
in die dampfende Brühe und hielt ihn Johanna hin, die diesmal von selbst aß.
Gudruns Stimme hob und senkte sich mit den süßen, beschwingten Klängen einer alten sächsischen Melodie. Von dem Lied und den
Zärtlichkeiten der Mutter umhüllt, sank Johanna langsam in einen heilenden Schlaf.
Als das Fieber verschwunden war, wurde Johannas starker junger Körper rasch gesund. Binnen zweier Wochen war sie wieder auf
den Beinen. Ihre Wunden verheilten sauber; allerdings war es offensichtlich, daß sie für den Rest ihres Lebens gezeichnet
bleiben würde. Gudrun klagte über die Narben – lange dunkle Streifen, die Johannas Rücken in eine häßliche Flickendecke mit
gezackten Rändern verwandelt hatte –, doch Johanna kümmerte es nicht. Sie kümmerte kaum noch etwas. Die Hoffnung war verschwunden.
Sie lebte; mehr aber auch nicht.
Die ganze Zeit verbrachte Johanna mit ihrer Mutter. Sie stand bei Tagesanbruch auf und half ihr, die Schweine und Hühner zu
füttern, die Eier einzusammeln, schwere Eimer Wasser aus dem Bach zu holen und Holz für das Herdfeuer zu sammeln. Später standen
sie Seite an Seite und bereiteten die Mahlzeiten für den Tag vor.
Eines Tages kneteten sie gemeinsam schweren Brotteig; ihre Finger formten geschickt die Laibe – Hefe und andere Treibmittel
wurden in diesem Teil des Frankenreichs selten verwendet –, als Johanna plötzlich fragte: »Warum hast du ihn geheiratet?«
Die unerwartete Frage brachte Gudrun ein wenig aus der |89| Fassung. Nach einigen Augenblicken sagte sie: »Du kannst dir nicht vorstellen, wie es für uns gewesen ist, als Karolus’ Armeen
kamen.«
»Ich weiß, was sie deinem Volk angetan haben, Mama. Und gerade deshalb begreife ich nicht, warum du nach alledem mit dem Feind
weggegangen bist – mit
ihm
.«
Gudrun erwiderte nichts.
Ich habe sie beleidigt,
dachte Johanna.
Jetzt wird sie es mir nicht mehr sagen.
»Es war Winter«, begann Gudrun zögernd, »und wir hatten schrecklichen Hunger; denn die christlichen Soldaten hatten nicht
nur unsere Häuser, sondern auch unser Getreide verbrannt.« Sie blickte an Johanna vorbei, als würde sie ein fernes Bild betrachten.
»Wir aßen alles, was wir fanden – Wurzeln, Disteln, selbst die unverdauten Samen im Dung der Tiere. Wir standen kurz vor dem
Verhungern, als dein Vater und weitere Missionare eintrafen. Sie waren anders als die anderen; sie trugen keine Schwerter
oder sonstige Waffen, und sie behandelten uns wie Menschen, nicht wie Vieh. Sie gaben uns Nahrungsmittel als Gegenleistung
für unser Versprechen, ihnen zuzuhören, wenn sie das Wort des christlichen Gottes predigten.«
»Sie haben Nahrung gegen den Glauben eingetauscht?« sagte Johanna. »Das ist aber eine jämmerliche Art und Weise, die Seelen
der Menschen zu gewinnen.«
»Ich war jung und für Eindrücke empfänglich. Vor allem aber war ich halb tot vor Hunger, Elend und Angst. Ihr christlicher
Gott muß größer und stärker sein als alle unsere Götter zusammen, dachte ich. Wie sonst hätten die Franken uns besiegen können?
Dein Vater hat sich meiner ganz besonders angenommen. Er habe große Hoffnungen, was mich angeht, sagte er; denn obwohl ich
als Heidin geboren sei, besäße ich die Fähigkeit, den wahren Glauben zu begreifen. Aber so, wie er mich anschaute, wußte ich,
daß er mich begehrte. Als er mich dann fragte, ob ich mit ihm fortgehen wollte, habe ich ja gesagt. Für mich war es die einzige
Hoffnung auf ein Weiterleben in einer
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