Die Päpstin
sobald der Unterricht zu Ende war. Johanna beobachtete die Jungen wachsam.
Johannes stand am Rande der kleinen Gruppe und hörte den anderen zu. Ihre Blicke trafen sich, und Johannes lächelte und winkte
seiner Schwester.
Sie erwiderte das Lächeln und wandte sich wieder der Arbeit |129| zu. Doch das kaum merkliche Prickeln einer düsteren Vorahnung durchrieselte sie, so daß die Härchen in ihrem Nacken sich aufstellten.
Hatten die Jungen irgend etwas vor? Oft quälten sie Johanna oder machten sich über sie lustig – natürlich unternahm Odo nichts
dagegen –, und wenngleich Johanna sich an die Ablehnung und die oft bösen Streiche gewöhnt hatte, fürchtete sie sich noch
immer davor.
Hastig schrieb sie die letzten Zeilen und stand auf, um das Klassenzimmer zu verlassen. Die Jungen standen immer noch an der
Tür. Johanna wußte, daß sie auf ihr Opfer warteten. Entschlossen reckte sie das Kinn vor. Egal, was die Jungen mit ihr vorhaben
mochten – sie würde es über sich ergehen lassen und dann schnellstmöglich durch die Tür hinaus flüchten.
Johanna nahm ihren Umhang vom hölzernen Haken in der Nähe der Tür, wobei sie die Jungen geflissentlich nicht beachtete. Dann
streifte sie sich den Umhang über, befestigte ihn sorgfältig am Hals, wandte sich zur Tür und zog sich die Kapuze über.
Im selben Augenblick spürte sie irgend etwas Schweres, Nasses auf dem Kopf. Sofort zerrte sie an der Kapuze und wollte sie
abstreifen, doch sie saß fest. Die klebrige Nässe lief ihr langsam den Kopf hinunter. Johanna hob die Hände und betastete
die zähe Masse, betrachtete ihre Finger und sah, daß sie mit einer dicken, schleimigen Substanz überzogen waren.
Gummiarabikum
. Ein in Unterrichtszimmern und klösterlichen Scriptorien häufig benutztes Material, das man mit Essig und Holzkohle vermischte,
um Tinte daraus herzustellen. Johanna wischte die Hand an ihrem Umhang ab, doch das
Gummiarabikum
klebte so fest, daß sie die Finger nicht mehr vom Stoff lösen konnte. Verzweifelt zerrte sie wieder mit der freien Hand an
der Kapuze und schrie auf, als sie schmerzhaft an den Haarwurzeln riß.
Ihr Schrei rief eine Lachsalve bei den Jungen hervor. Mit schnellen Schritten ging Johanna zur Tür. Die Gruppe teilte sich,
als sie näher kam, und die Jungen bildeten zu beiden Seiten eine Reihe.
»Lusus naturae!«
verspotteten sie das Mädchen. »Laune der Natur!«
In der Mitte einer der beiden Reihen sah Johanna ihren Bruder. Er lachte mit den anderen und rief ihr ebenfalls Schmähungen
und Beleidigungen zu. Ihre Blicke trafen sich; Johannes errötete und schaute weg.
|130| Unbeirrt ging Johanna weiter. Zu spät sah sie den Blitz aus blauem Stoff, der über den Fußboden zuckte. Sie stolperte, stürzte
unbeholfen und fiel schwer auf die Seite.
Johannes
, durchfuhr es sie.
Er hat mir ein Bein gestellt.
Sie rappelte sich auf und stöhnte, als ein glühender Schmerz durch ihre rechte Körperseite jagte. Der eklige Schleim, der
unter ihrer Kapuze hervorquoll, strömte ihr übers Gesicht. Sie riß die Hände los und versuchte zu verhindern, daß der Gummi
ihr in die Augen lief, doch es war vergeblich. Die Masse kroch langsam über die Augenbrauen auf ihre Lider, verklebte die
Wimpern und blendete das Mädchen beinahe.
Lachend drangen die Jungen auf sie ein, schubsten sie hin und her und versuchten, sie noch einmal zu Fall zu bringen. Johanna
hörte die Stimme ihres Bruders aus denen der anderen heraus; er schlug auf sie ein, rief ihr Schimpfworte zu. Durch den dicken
trüben Film, der Johannas Augen bedeckte, drehte das Klassenzimmer sich schwindelerregend um sie herum, in Mustern aus Licht
und Farbe, die sich ständig veränderten. Johanna konnte nicht einmal mehr die Tür ausmachen.
Sie spürte, wie ihr die Tränen kamen.
O nein!
dachte sie entschlossen. Genau darauf legten die Jungen es an – sie wollten Johanna am Boden sehen, weinend und um Gnade winselnd;
sie wollten erleben, wie sie Schwäche zeigte, damit sie sich über die weibische Feigheit eines kleines Mädchens lustig machen
konnten.
Da können sie lange warten. Den Gefallen werde ich ihnen nicht tun.
Schwankend hielt Johanna sich auf den Beinen und wehrte sich gegen die Tränen. Doch diese Demonstration von Selbstbeherrschung
und tapferem Widerstandswillen stachelte die Jungen nur noch mehr an, und ihre Schläge wurden härter. Der größte der Jungen
hämmerte Johanna mit aller Kraft die Fäuste in den
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