Die Päpstin
Prügel zu verpassen. Sie schien
tatsächlich lernen zu wollen.
Odo ging zu Johannas Schreibpult und trat demonstrativ dicht an sie heran. Jetzt erst hielt Johanna in ihrer Arbeit inne |127| und hob den Kopf. Auf ihrem Gesicht spiegelten sich Verblüffung und – war das möglich? – Enttäuschung.
»Habt Ihr mich aufgerufen, Herr? Dann bitte ich um Entschuldigung. Ich war so sehr in meine Arbeit vertieft, daß ich Euch
nicht gehört habe«, sagte Johanna höflich.
Sie spielt ihre Rolle gut
, ging es Odo durch den Kopf.
Aber ich lasse mich nicht täuschen.
O ja, sie tat so, als hätte sie Achtung und Respekt vor ihm, wann immer er sie anredete; doch Odo konnte die Wahrheit in ihren
Augen lesen: In ihrem Innern verspottete sie ihn und machte sich über ihn lustig. Das durfte er nicht hinnehmen!
Er beugte sich vor und schaute sich Johannas Arbeit an, wobei er schweigend die pergamentenen Seiten durchblätterte.
»Deine Hand«, sagte er, »ist noch nicht sicher genug. Hier … und hier …«, er tippte mit seinem langen weißen Zeigefinger auf
das Pergament, »… und hier hast du deine Buchstaben nicht rund genug geschrieben. Welche Erklärung hast du für eine so schlampige
Arbeit, Kind?«
Schlampige Arbeit! Johanna war empört. Sie hatte soeben zehn Seiten Text mit Kommentaren versehen – weitaus mehr, als jeder
andere Schüler es in der doppelten Zeit vermocht hätte. Zudem waren ihre Anmerkungen sauber geschrieben und vollständig –
selbst Odo versuchte gar nicht erst, dies zu bestreiten. Johanna hatte das Aufblitzen in seinen Augen gesehen, als er einen
Absatz überflogen und den stilsicheren und eleganten Gebrauch des Konjunktivs bemerkt hatte.
»Was ist?« drängte Odo. Er wollte den Widerstand dieses Mädchens herausfordern, wollte erreichen, daß sie ihm eine schroffe
Antwort gab.
Diese überhebliche, widernatürliche Kreatur.
Odo wußte, daß dieses Mädchen die Absicht hatte, die gottgewollte Ordnung des Universums zu verletzen, indem es die rechtmäßige
Autorität des Mannes gegenüber dem Weib zu untergraben versuchte.
Nun mach schon
, drängte er Johanna in Gedanken.
Sag, was du denkst.
Denn falls sie das tat, hatte Odo sie dort, wo er sie haben wollte …
Johanna bemühte sich, ihre Gefühle unter Kontrolle zu halten. Sie wußte, was Odo vorhatte. Doch wie sehr er sie auch reizen
mochte, sie würde ihm nicht in die Falle gehen. Sie würde ihm nicht den Gefallen tun und ihm einen Grund liefern, sie von
der Domschule zu verweisen. Mit ausdrucksloser |128| Stimme erwiderte Johanna: »Ich habe keine Entschuldigung, Herr.«
»Sehr schön«, sagte Odo. »Zur Strafe für deine Gleichgültigkeit wirst du aus dem ersten Brief an Timotheus den Abschnitt zwei,
Verse elf bis vierzehn, fünfundzwanzigmal in
schöner
Handschrift niederschreiben, bevor du das Klassenzimmer verläßt.«
Heißer Zorn loderte in Johannas Innerem auf. Dieser widerliche, kleingeistige Mann! Wenn sie ihm doch nur ins Gesicht sagen
könnte, was sie von ihm dachte.
»Ja, Herr.« Johanna hielt den Blick gesenkt, so daß Odo ihre Gedanken nicht lesen konnte.
Odo war enttäuscht. Na ja, sagte er sich. Auf Dauer wird dieses Mädchen das nicht durchhalten. Ihr Stolz und ihre Gefühle
konnten nicht bis ins Unendliche verletzt werden. Früher oder später – und bei diesem Gedanken mußte er lächeln – würde sie
ihrem Zorn nachgeben. Und dann war der Augenblick seines Triumphs gekommen.
Er ließ Johanna an ihrem Pult sitzen und wandte sich der Überprüfung seiner anderen Schüler zu.
Johanna seufzte und nahm die Schreibfeder auf. Erster Brief an Timotheus, Abschnitt zwei, Verse elf bis vierzehn. Johanna
kannte die Textstelle ziemlich gut; es war nicht das erste Mal, daß Odo diese Strafe verhängte. Es handelte sich um Zitate
des heiligen Paulus: »Eine Frau soll sich still und in aller Unterordnung belehren lassen. Daß eine Frau lehrt, erlaube ich
nicht, auch nicht, daß sie über ihren Mann herrscht; sie soll sich still verhalten. Denn zuerst wurde Adam erschaffen und
danach Eva. Und nicht Adam wurde verführt, sondern die Frau ließ sich verführen und übertrat das Gebot.«
Johanna war mit mehr als der Hälfte ihrer Strafarbeit fertig, als sie zum erstenmal spürte, daß irgend etwas nicht stimmte.
Sie blickte auf. Odo war verschwunden. Die Jungen standen dicht beisammen an der Tür und unterhielten sich. Das war seltsam.
Normalerweise stürmten sie aus dem Klassenzimmer,
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