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Die Päpstin

Titel: Die Päpstin Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Aufbau
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blindlings beim Schopf gepackt, ohne über die möglichen Folgen nachzudenken.
     Es war klar, daß sie nie mehr nach Hause zurückkehren konnte. Der Vater würde sie ihres Ungehorsams wegen totschlagen. Jetzt
     gehörte sie hierher, in diesen seltsamen, freudlosen Landstrich, und hier mußte sie nun bleiben, sei es zum Guten oder zum
     Schlechten.
    Mama
, dachte Johanna, während sie in die bedrohliche, beängstigende Finsternis des unbekannten Zimmers starrte, und eine einzelne
     Träne rann ihr über die Wange.

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    |125| 8.
    Im Klassenzimmer – einem kleinen Raum mit steinernen Wänden, der an die Dombibliothek angrenzte – blieb es selbst an diesem
     warmen Frühlingsnachmittag kühl und feucht. Johanna liebte diese Kühle und den kräftigen Geruch nach Pergament, der schwer
     in der Luft lag: Es war eine Verlockung, die riesigen Bestände an Büchern zu erforschen, die sich gleich hinter der nächsten
     Tür befanden.
    Ein großes Gemälde bedeckte die vordere Wand des Klassenzimmers. Es war das Bild einer Frau, die in weite, wallende Gewänder
     gekleidet war, wie die Griechen sie trugen. In der linken Hand hielt die Frau eine Schere, in der rechten eine Peitsche. Die
     Frau war das Sinnbild des Wissens; ihre Schere sollte alle Irrlehren und falschen Glaubenssätze abschneiden, und ihre Peitsche
     diente zur Ermahnung fauler Schüler und sollte sie zu fleißigem Lernen anhalten. Die Augenbrauen der Frau standen dicht beieinander,
     und ihre Mundwinkel waren nach unten gebogen, was ihrem Gesicht einen strengen Ausdruck verlieh. Die dunklen Augen starrten
     von der Wand herunter und schienen den Betrachter direkt anzuschauen – mit einem unnachgiebigen, herrischen Blick. Odo hatte
     das Gemälde in Auftrag gegeben, kurz nachdem er seine Stelle als Lehrer an der Domschule angetreten hatte.
    Bos mugit, equus hinnit, asinus rudit, elefans barrit …
    Auf der linken Seite des Klassenzimmers trugen die weniger fortgeschrittenen Schüler diesen Vers in monotonem Sprechgesang
     vor, um die einfachen Verbformen zu üben.
    Kühe muhen, Pferde wiehern, Esel schreien, Elefanten brüllen …
    Odo bewegte rhythmisch die Hände auf und ab und gab auf diese Weise den Takt des Sprechgesangs an. Derweil schweifte sein
     geübter Blick durchs Klassenzimmer und überwachte die Arbeit seiner anderen Schüler.
    Ludovic und Ebbo kauerten dicht beieinander über einem |126| der Psalmen. Sie sollten ihn auswendig lernen, doch die Neigung ihrer Köpfe ließ erkennen, daß sie sich unterhielten, statt
     sich mit ihrer Aufgabe zu beschäftigen. Ohne daß seine rechte Hand beim Dirigieren des Sprechgesangs auch nur einen Takt ausließ,
     hieb Odo den beiden Jungen mit einem langen Schlagstock kräftig auf die Hinterköpfe. Sie schrien auf, beugten sich wieder
     über ihre Pulte und saßen da wie Sinnbilder der Arbeitsamkeit.
    Johannes saß an einem Pult in der Nähe und beschäftigte sich mit einem alphabetischen Verzeichnis. Er hatte sichtlich große
     Schwierigkeiten. Er las langsam, formte mit peinlicher Genauigkeit jeden Vokal und Konsonanten mit den Lippen und hielt oft
     inne, um sich verwirrt am Kopf zu kratzen, wenn er auf irgendein unbekanntes Wortmuster gestoßen war.
    Auch Johanna, die von den anderen Schülern getrennt saß – die Jungen wollten nichts mit ihr zu tun haben –, befaßte sich eingehend
     mit der Aufgabe, die Odo ihr gestellt hatte, und versah ein Werk über das Lebens des heiligen Antonius mit Kommentaren. Sie
     arbeitet rasch und präzise; ihre Schreibfeder wanderte voller Sicherheit und Genauigkeit über das Pergament. Die Konzentration
     des Mädchens war vollkommen.
    Odo sagte kurz angebunden: »Das reicht für heute. Diese Gruppe …«, er zeigte auf die Novizen, »kann gehen. Die anderen bleiben
     auf ihren Plätzen, bis ich mir ihre Arbeiten angeschaut habe.«
    Aufgeregt erhoben sich die Novizen und verließen das Klassenzimmer so schnell, wie die Schicklichkeit es gerade noch erlaubte.
     Die anderen Schüler legten ihre Griffel und Schreibfedern nieder und schauten Odo erwartungsvoll an. Alle waren darauf bedacht,
     so rasch wie möglich nach draußen in den warmen Frühlingsnachmittag entlassen zu werden.
    Johanna blieb am Schreibpult sitzen, über ihre Arbeit gebeugt.
    Odo runzelte die Stirn. Der Eifer des Mädchens hatte ihn zugegebenermaßen in Erstaunen versetzt. Wieder einmal zuckte seine
     Hand instinktiv zur Rute; doch bislang hatte Johanna ihm keinen Anlaß gegeben, ihr eine Tracht

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