Die Päpstin
Villaris, mein Heim – und nun auch das deine, Johanna.«
Selbst in der Dunkelheit bot Villaris einen prachtvollen Anblick. Die Umgegend beherrschend, lagen die Gebäude in einem kleinen
Wäldchen auf der Kuppe eines Hügels. Johanna blickte staunend auf die Burganlage. Villaris sah riesengroß aus. Es umfaßte
vier hohe Gebäude aus dicken Holzbohlen, die durch eine Reihe von Höfen und durch wundervolle überdachte Säulengänge miteinander
verbunden waren. Gerold und Johanna ritten durch die dicke Palisade aus Eiche, die den Haupteingang schützte, und kamen an
mehreren Außengebäuden vorbei: einer Kochstube, einer Bäckerei, einem Stall, einem Getreidespeicher und zwei Scheunen. Auf
einem kleinen Vorhof stiegen sie von den Pferden, und Gerold legte die Zügel seines Tieres in die wartenden Hände des Stallmeisters.
Fackeln aus Harz, die in regelmäßigen Abständen angebracht |123| waren, erhellten ihren Weg, als sie einen langen, fensterlosen Gang hinunterschritten, an dessen Wänden lange Reihen schimmernder
Waffen hingen: lange Schwerter, Speere, Armbrüste und die kurzen, schweren, einseitig geschliffenen Schwerter, die von den
gefürchteten fränkischen Fußsoldaten bevorzugt wurden.
Gerold und Johanna gelangten auf einen zweiten, größeren Hof, der von überdachten Säulengängen umgeben war, und gingen darüber
hinweg in die Wohnhalle des Hauptgebäudes – eine großer, hoher Raum, der mit reich verzierten Wandteppichen geschmückt war.
In der Mitte der Halle stand die schönste Frau, die Johanna je gesehen hatte, von ihrer Mutter abgesehen. Doch während Gudrun
hochgewachsen war, mit weißblondem Haar und heller Haut, war diese Frau klein und zierlich, mit pechschwarzem Haar und großen,
stolzen dunklen Augen, die sich auf Johanna richteten und sie mit einem Ausdruck musterten, der deutliches Mißfallen zeigte.
»Was hat das zu bedeuten?« fragte die Frau unvermittelt, als Gerold und Johanna näher kamen.
Gerold beachtete ihre schroffe Frage nicht. Statt dessen sagte er: »Johanna, das ist meine Frau Richild, Markgräfin zu Villaris
und Herrin dieses Anwesens. Richild, darf ich dir Johanna von Ingelheim vorstellen? Sie ist heute eingetroffen, um ihre Studien
an der
scola
aufzunehmen.«
Johanna machte den unbeholfenen Versuch eines Hofknickses, den Richild mit verächtlichem Blick zur Kenntnis nahm, bevor sie
sich wieder an Gerold wandte. »Sie soll auf die Domschule gehen? Soll das ein Scherz sein?«
»Fulgentius hat sie aufgenommen. Für die Dauer ihrer Studienzeit wird Johanna hier auf Villaris wohnen.«
»Hier?«
»Sie kann sich ein Bett mit Gisla teilen. Gisla könnte zur Abwechslung mal eine vernünftige Gefährtin gebrauchen.«
Die anmutigen schwarzen Augenbrauen Richilds hoben sich, und sie blickte herablassend auf Johanna. »Sie sieht wie eine
colona
aus den finstersten Wäldern des Nordens aus.«
Johanna errötete angesichts der Beleidigung, ein Bauerntrampel zu sein.
»Du vergißt dich, Richild!« ermahnte Gerold seine Frau mit Schärfe in der Stimme. »Johanna ist Gast in diesem Hause.«
Richild zog die Nase hoch. »Nun ja«, sie betastete prüfend |124| den Stoff des neuen grünen Leinenumhangs, den Johanna trug, »immerhin scheint sie sauber zu sein.« Mit herrischer Geste gab
sie einem Diener ein Zeichen. »Führe sie ins Schlafgemach.« Dann eilte sie ohne ein weiteres Wort aus der Halle.
Bald darauf lag Johanna neben der schnarchenden Gisla (die nicht einmal aufgewacht war, als Johanna neben sie unter die Decke
kroch) auf einer weichen Strohmatratze im Schlafgemach im Obergeschoß und fragte sich, wie es ihrem Bruder ergehen mochte.
Neben wem schlief Johannes jetzt wohl? Vorausgesetzt, er konnte überhaupt schlafen. Sie jedenfalls bekam kein Auge zu; in
ihrem Kopf wirbelten beängstigende Gedanken und Gefühle umher. Sie sehnte sich nach der vertrauten Umgebung, nach zu Hause
und besonders nach ihrer Mutter. Sie wollte in die Arme genommen und liebkost und ›kleine Wachtel‹ genannt werden. Sie hätte
nicht klammheimlich davonlaufen sollen, ohne ein Wort des Abschieds. Gudrun hatte sie verleugnet, als der Gesandte des Bischofs
gekommen war; daran gab es nichts zu deuteln. Doch Johanna wußte, daß ihre Mutter es aus einem Übermaß an Liebe getan hatte
– weil sie es nicht ertragen konnte, ihre Tochter fortgehen zu sehen. Nun sah sie, Johanna, ihre Mutter vielleicht nie mehr
wieder. Sie hatte die Gelegenheit zur Flucht
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