Die Papiermacherin
großen Palästen, die vermutlich von den Angehörigen des alteingesessenen städtischen Adels bewohnt wurden, gab es kleinere, immer noch erhaben wirkende Kaufmannshäuser und schließlich Bauten, aus denen vielstimmiges Kindergeschrei zu hören war, sodass niemand daran zweifeln konnte, dass hier mehrere Familien zusammenlebten. Aber gleichgültig, ob man die Paläste, die Bürgerhäuser oder die elenden Quartiere von Tagelöhnern betrachtete – alle Gebäude waren ungefähr gleich hoch. Kein Palast erhob sich maßgeblich über die anderen Häuser.
Wollte man hier die Gleichheit aller Menschen vor Gott durch die Höhe ihrer Quartiere versinnbildlichen? Als Li Lorenzo D’Antonio auf diesen Umstand ansprach, war dessen Antwort reichlich ernüchternd. »Der Boden ist sumpfig und gibt nach«, erklärte er. »Wenn man hier zu hoch baut, muss man das entweder auf einem Fundament tun, das einer Kathedrale würdig ist, oder das betreffende Haus versinkt nach und nach im sumpfigen Untergrund der Lagune.«
Während ihrer Fahrt durch die Kanäle kamen sie an dem einen oder anderen Gebäude vorbei, dessen Baumeister dieser Maxime offenbar zu wenig Beachtung geschenkt hatte. Schief standen solche Häuser da. Die Pfähle, auf denen sie ruhten, waren auf einer Seite nicht mehr zu sehen, auf der anderen ragten sie faulig aus dem Wasser. Hier konnte niemand mehr wohnen, und es fand sich wohl auch keiner, der die Pfähle erneuerte und das Haus vor dem weiteren Einsinken bewahrte.
»Es ist schon einige Zeit her, dass ich das letzte Mal Venedig besuchte«, sagte Arnulf an Li gewandt. »Es war im Auftrag des Kaisers, und ich hatte eine Botschaft an den Dogen zu überbringen. Aber ehrlich gesagt wäre das kein Ort, an dem ich auf Dauer leben möchte.«
Li hob die Augenbrauen. »Aber warum nicht? Es scheint wunderschön hier zu sein!«
»Ich sitze eben lieber auf dem Rücken eines Pferdes als in einer kippligen Gondel – denn wenn ich vom Pferd falle, dann nur bis zum Boden – aber hier …« Er sprach nicht weiter, sondern warf nur einen kurzen Blick in das vom schlammigen Untergrund dunkle Wasser.
»Aber du hast schon von diesem Dom gehört, den Lorenzo erwähnte?«
»Ich habe ihn sogar gesehen. Zumindest das, was bereits von ihm sichtbar war.«
»Du sprichst in Rätseln! Wo ist denn der Dom von San Marco?«, fragte Li. »Wenigstens seine Kuppeln oder Türme sollten sich doch über die Stadt erheben, wenn er die Ruhestätte heiliger Knochen ist!«
Dass man die Gebeine eines Heiligen verehrte, konnte Li sofort nachvollziehen. Es ähnelte sehr der Verehrung der Ahnen, die sie aus ihrer Heimat kannte.
»Der Dom ist eine Baustelle«, sagte Arnulf. »Er ist etwa so hoch wie ein mittleres Bürgerhaus. Zumindest war das der Fall, als ich zuletzt hier war, aber da man schon über zwanzig Jahre daran baut, glaube ich nicht, dass sich inzwischen viel getan hat!«
»Im Jahr meiner Geburt hat ein Feuer fast ganz Venedig zerstört«, mischte sich Lorenzo D’Antonio ein. »Manche in meiner Familie haben das als böses Zeichen genommen, von dem sie insgeheim noch immer erwarten, dass es sich bald erfüllt.« Lorenzo lachte. »Der Dogenpalast steht längst wieder, aber der Markusdom soll etwas so Besonderes werden, dass man sich nicht so recht einigen kann, wie es weitergehen soll – und vor allem, wer es bezahlt!« Lorenzo zuckte die Achseln. »Man sieht jedenfalls, wo der Senat die Prioritäten setzt!«
Sie erreichten schließlich eine Insel mit einem ummauerten Palazzo. An einem Steg lagen ein Dutzend Gondeln unterschiedlicher Größe – alle in sehr gutem Zustand und von kostbarster Verarbeitung.
»Willkommen im Palazzo D’Antonio!«, rief Lorenzo auf seine großspurige Art.
»Wir haben Platz genug, es gibt ganze Nebengebäude, die regelrecht verwaist sind, da meine Familie zwar eine große Vergangenheit, aber vielleicht eine zahlenmäßig viel kleinere Zukunft haben wird! Nicht, dass Ihr annehmt, es hätte den D’Antonios an Manneskraft oder Gebärfreudigkeit gefehlt – eher an Widerstandskraft gegen die Epidemien verschiedener Sumpffieberarten.«
Das Boot wurde festgemacht. Sie gingen einer nach dem anderen an Land – auch Christos, der sich trotz seiner Blindheit überraschend gut zurechtfand. »Jedem unserer Gäste steht jederzeit eine Gondel zur Verfügung, falls das Bedürfnis besteht, sich auf den Plätzen umzusehen oder das Festland zu besuchen – wovon ich nur abraten kann, denn dort herrscht zwei
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