Die Papiermacherin
langen, dünnen Stock. Als er vom Pferd stieg, fiel das Mondlicht auf sein Gesicht mit den blicklosen Augen.
Wenig später segelte Lorenzos Schiff das Goldene Horn entlang. »San Marco heißt dieses Schiff«, erklärte Lorenzo D’Antonio an Fra Branaguorno gerichtet. »Wie der Heilige, dessen Gebeine durch die List venezianischer Kaufleute aus Alexandria geraubt wurden und nach dem eine Kirche, ein Platz und ein Viertel von Venedig benannt sind.«
»Ich nehme an, dass auch Männer aus Eurer Familie daran beteiligt waren«, gab Fra Branaguorno zurück.
»Aber sicher! Man kann sagen, ohne meine Vorväter gäbe es keinen Markusdom in Venedig!«
Der Drang, etwas Großes zu leisten, musste angesichts solcher Vorfahren immens sein!, ging es Li durch den Kopf, die von dem Gespräch zwischen dem Mönch und dem Patrizierspross aus Venedig das meiste verstand und es als willkommene Gelegenheit wahrnahm, sich in die Mundart der Venezianer einzuhören. Es wird ihm nicht gelingen, die Vorväter zu überstrahlen!, erkannte sie. Gleichgültig, was Lorenzo in Zukunft noch erreichen mochte – sein Licht würde niemals heller strahlen als das jener ruhmreichen Seefahrer, die man durch den Bau einer Kirche geehrt hatte. Nicht die besten Geschäfte, die prunkvollsten Palazzi oder eine bis zur Decke gefüllte Schatzkammer könnten solchen Nachruhm aufwiegen. Selbst die Errichtung einer Papierwerkstatt in Venedig würde das nicht vermögen. In diesem Moment bedauerte Li den stolzen Venezianer.
Unbehelligt fuhr das Schiff schließlich ins Marmarameer, während über Chalcedon blutrot die Sonne aufging und ihre ersten Strahlen über den Horizont sandte.
Zweiundzwanzigstes Kapitel
Venedig
In Xi Xia hatte es weit und breit kein Meer gegeben, und Li kannte es nur aus Erzählungen. Aber diese Geschichten über ein Wasser, das bis zum Horizont und darüber hinaus reichte, waren so fern und unwirklich wie die Erzählungen über große Helden der Vergangenheit, über Götter oder magische Fabelwesen, bei denen einerseits niemand anzweifelte, dass es sie gab, obwohl man andererseits nie jemanden traf, der ihnen tatsächlich begegnet wäre.
Auf ihrer Seereise vom Heiligen Land nach Konstantinopel war ihr zum ersten Mal vage bewusst geworden, was es bedeutete, vollkommen von den Fluten eines Meeres umgeben zu sein, ohne irgendwo noch wenigstens den dunstigen Grünstreifen einer Ferne ausmachen zu können. Aber innerlich war sie seinerzeit nicht frei gewesen, um diese Eindrücke so aufmerksam in sich aufzunehmen, wie es ihnen zweifellos gebührte. Der Tod ihres Vaters und Gaos hatte damals ihre Seele niedergedrückt und unempfänglich gemacht. Sie war beinahe wie taub und blind gegenüber allem gewesen, was auf sie einstürzte.
Die Trauer würde wohl nie ganz aus ihrem Herzen verschwinden. Aber längst waren die trüben Gedanken, die damit einhergingen, für sie nicht mehr die beherrschende Kraft. Und so verbrachte Li den Großteil der Seereise nahe dem Bug an der Reling und schaute in die Ferne, bis ihr die Augen von dem grellen Glitzern des Sonnenlichts auf der gekräuselten Wasseroberfläche schmerzten.
Die San Marco legte zunächst auf Kreta und später in der Stadt Ragusa an der adriatischen See an. In Ragusa blieben sie ein paar Tage, weil Lorenzo D’Antonio auch hier einige Geschäfte zu erledigen hatte.
In Ragusa machte gerade die Nachricht die Runde, dass eine Flotte aus Florenz gegen die Piratennester an der dalmatinischen Küste vorgegangen war und diese angeblich zu einem großen Teil zerschlagen hatte.
»Sorglos sollte uns das nicht machen«, meinte Fra Branaguorno dazu, »aber doch guter Hoffnung.«
Das Meer war für Li ein Wunder, an das sie sich nur langsam zu gewöhnen vermochte. Noch viel überwältigender als das Meer selbst wirkte allerdings eine Stadt im Meer – denn genau so wirkte Venedig auf sie, als sie die Einfahrt zur Laguna passiert hatten. Die San Marco wurde nun gerudert, und die Seeleute holten die Segel ein, da es sonst unmöglich gewesen wäre, sicher zu manövrieren. Unzählige kleinere Schiffe und Boote umschwärmten die San Marco wie ein Bienenschwarm einen Bau. Schiffe lagen vor Anker und warteten darauf, abgefertigt und entladen zu werden, kleine Barkassen sorgten für den Verkehr mit der Stadt, die anscheinend auf mehreren Inseln lag. Häuser standen auf Pfahlkonstruktionen im Wasser, und langgezogene, schlanke Boote schienen die bevorzugten Mittel darzustellen, sich innerhalb
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