Die Papiermacherin
höchsten Wesen gehörten, war offenbar bei allen Glaubenslehren des Westens verbreitet. Nur die Zeiten, die man jeweils für das Gebet zu reservieren hatte, unterschieden sich.
Li konnte sich noch gut daran erinnern, wie ihr Vater sich darüber lustig gemacht hatte, welche Narren all jene doch waren, die einen ganzen Arbeitstag ausfallen ließen, nur um sich der Anrufung eines höchsten Wesens zu widmen.
Aber wenn in Samarkand die Geschäftigkeit fünfmal am Tag und einen Tag in der Woche nahezu vollständig zum Erliegen kam, konnte niemand sich von diesem Innehalten ausschließen. Wahrscheinlich bedurfte es schon des Befehls einer Gottheit, um jene andere große Macht in die Schranken zu weisen, der die Menschen ansonsten gehorchten: das Streben nach Erwerb und Gewinn.
Eines Tages kamen Wächter des Palastes, um Li mitzunehmen. Sie hatte gerade das Badehaus besucht, denn es war der Vorabend eines Feiertags. Die Wächter nannten nicht den Grund, weshalb sie ihnen folgen sollte. Li fragte sich, ob man vielleicht mit ihrer Arbeit unzufrieden war oder ob Meister Mohammeds Aussage stimmte, wonach es Eiferer gab, die den Inhalt eines Buches auch denen anlasteten, die sich an seiner Herstellung beteiligt hatten – und mochte es auch nur um das Papier gehen, auf dem die schändlichen Zeilen schließlich geschrieben wurden.
Viele Gedanken gingen Li durch den Kopf, als man sie durch die Gänge des Palastes führte.
Seit Thorkild Eisenbringer sie und ihre Begleiter an den Statthalter von Samarkand verkauft hatte, war sie nicht mehr im Inneren des Palastes gewesen. Und das war nun schon Monate her.
Der Statthalter empfing sie diesmal in einem Raum, an dessen Wänden kostbare Wandteppiche hingen, deren symmetrische Muster Li an die Prinzipien der Harmonie und des Gleichmaßes denken ließen, wie sie auch die Lehre des Dao vermittelte. Alles hatte seine Entsprechung, jede helle Farbe ihr dunkles Gegenteil, und die Ebenmäßigkeit der Formen erinnerte an einen labyrinthischen Garten aus einem Blickwinkel, wie ihn vielleicht ein über die Hecken fliegender Vogel hatte.
Man konnte in diesen Ornamenten den Blick ewig wandern lassen und im immer Gleichen doch stets etwas Neues finden. Li war zutiefst beeindruckt. Wer diese Muster auf den Teppichen erschaffen hatte, war in ihren Augen ein ebenso großer Künstler wie jene inspirierten Geister, die für die Gestaltung der Mosaiken verantwortlich waren. Sinnbilder vollkommener Ordnung waren es in Lis Augen – und damit auch ein Gleichnis für die Welt in ihrer wahren Gestalt.
Prinz Ismail lächelte nachsichtig, denn ihm entging Lis Bewunderung für die Gestaltung des Raums nicht, selbst wenn er nicht im Einzelnen hätte sagen können, worauf sie sich genau bezog.
»Du scheinst einen Sinn für Schönheit zu haben, wie er nicht oft vorkommt«, sagte er in seinem sehr klaren und auch für Li außerordentlich gut verständlichen Persisch.
»Eure Worte sind zu gütig, Herr«, erwiderte sie und neigte den Kopf.
Prinz Ismail saß auf einem Diwan, davor ein kunstvoll gefertigter Tisch, auf dem Dokumente zum Unterzeichnen lagen. Kentikian stand neben ihm und legte dem Statthalter neue Dokumente vor, sobald die vorherigen dessen Namenszug trugen. Auf dem Diwan lag ein Buch. Inzwischen kannte Li die Bedeutung von einigen der arabischen Schriftzeichen, mit denen das Persische geschrieben wurde. Es war eine verhältnismäßig einfache Art der Schrift, die darauf abzielte, den Klang des gesprochenen Wortes wiederzugeben – und nicht die Bedeutung, wie es bei den Zehntausenden von Zeichen der Fall war, mit denen die Schreiber im Reich der Mitte vertraut sein mussten. Alle Schriften des Westens kamen mit einer vergleichsweise geringen Zahl von verschiedenen Zeichen aus. Das war ihr schon aufgefallen, als sie sich von Bruder Anastasius Griechisch und Latein hatte beibringen lassen. Offenbar brauchte keine dieser Sprachen, vom Lateinischen bis zum Persischen, mehr als ungefähr zwei Dutzend Zeichen. Manchmal erschienen sie mit leichten Abwandlungen, aber selbst wenn man diese als eigenständige Zeichen ansah, blieb ihre Anzahl lächerlich gering. Für einen Menschen mit einem durchschnittlich geübten Gedächtnis sollte es eigentlich nicht schwierig sein, sie allesamt zu lernen, fand Li.
Immerhin konnte sie mittlerweile gut genug Persisch lesen, um zu erkennen, dass das Buch, das der Statthalter neben sich liegen hatte, in arabischer Sprache verfasst war.
»Lass uns allein!«, wandte
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