Die Papiermacherin
dass sie heilig sei, und in der deshalb wahrscheinlich mehr Bedarf an heiligen Schriften besteht als an irgendeinem Ort sonst in der Welt. Die Christen pilgern aus ihren Ländern dorthin, und manche von ihnen können inzwischen sogar lesen! Die Muslime gehen zum Felsendom, die Juden dorthin, wo früher angeblich der Tempel Salomos stand – und die Anhänger aller drei Buch-Religionen gehen an jene Stelle, wo Abraham seinen Sohn Isaak opfern wollte. Aber sie alle brauchen Papier! Papier, das die drei dort für uns schöpfen werden!«
»Wie viele Blätter können drei Papiermacher schon schaffen?«, meinte Jamal zweifelnd. »Ihre Arbeit wird sie kaum selbst ernähren, wenn man alle Kosten abzieht. Und vielleicht musst du noch Silber dazulegen, wenn du sie nicht auf der Straße schlafen lassen willst!«
»Sie werden ihre Kunst anderen zeigen, und schon bald versorgen wir ganz Jerusalem mit Papier!«, widersprach Firuz. »Unser Großonkel hat gute Verbindungen im ganzen Land und kann uns alle Türen öffnen!«
Firuz schien von seinem Plan vollkommen in Beschlag genommen. »Die Abschriften des Korans werden überall zu erwerben sein. Wir werden Schreiber aus fünf Städten dafür anstellen und …«
»Er sollte diese Bücher drucken , wie es in Bian seit zwei Jahrhunderten geschieht!«, raunte Meister Wang Li in der Han-Sprache zu. Aufgrund der Hitzigkeit des Wortgefechts zwischen Firuz und seinem Bruder bekam davon allerdings keiner der beiden etwas mit.
Sie setzten den Weg am nächsten Morgen fort. Li saß auf dem Kamel und hing ihren Gedanken nach. Was mochte aus Arnulf geworden sein? Hatte er das Land der Eisenberge erreicht und gefunden, wonach er suchte, oder hatten ihn Thorkilds Männer erschlagen? Irgendwie fühlte sie, dass Letzteres nicht geschehen war. Zwischen ihren Seelen gab es zweifellos eine innere Verbindung, wie sie manchmal bestand, ohne dass man genau ergründen konnte, warum. Hätte sie dann nicht auch spüren müssen, wenn seine Seele aus dem Leben fortgerissen worden wäre?
Sie seufzte und schalt sich selbst eine Närrin, über diese Dinge nachzugrübeln. Dabei gefror ihr Atem zu einer grauen Wolke. Du wirst ihn nie wiedersehen!, ging es ihr durch den Kopf. Sie waren wie zwei Sandkörner in der Karakum, die der Wind mit sich gerissen und in verschiedene Richtungen geweht hatte. Solche Sandkörner konnten Tausende von Meilen weit getragen werden – und dass sie und dieser Ritter aus Saxland sich wiedertrafen, war ebenso unwahrscheinlich wie das erneute Zusammentreffen zweier Sandkörner im Wüstenwind.
Was aber, wenn es irgendwo ein Felsmassiv gab, zu dem alle Winde ihre Last früher oder später hintrugen und wo sich all das irgendwann einfand, was zunächst scheinbar sinnlos verstreut worden war? Dieser Gedanke beschäftigte Li, und sie glitt erneut in ihre Gedankenwelt ab, die ihr trotz aller Aussichtslosigkeit so viel tröstlicher erschien als der tägliche Trott dieser Karawane.
Dann hörte sie hinter sich das Schnaufen eines Trampeltiers, dessen Schritte ein paar schrille Befehle einer Frauenstimme beschleunigt hatten. Das Tier holte auf und lief dann genau neben Lis Kamel her.
Es war Jarmila.
Sie sollte ich versuchen, zu meiner heimlichen Verbündeten zu machen!, überlegte Li. Denn ohne eine Verbündete drohte ihr ein hartes Schicksal, wie sie inzwischen begriffen hatte.
»Willst du lernen, wie man einem Kamel befiehlt?«, fragte Jarmila. »Oder reicht es dir, faul zwischen seinen Höckern zu sitzen wie ein Säugling an der Brust seiner Mutter?«
»Zeig es mir«, verlangte Li. »Man kann nie genug lernen.«
Innerhalb der nächsten Tage und Wochen lernte Li, wie man bei einem Kamel selbst die Zügel hielt und es dazu brachte, einem zu gehorchen. Und sie gab dieses Wissen an ihren Vater und Gao weiter. Letzterem ging es inzwischen etwas besser, aber der Husten hielt sich hartnäckig.
Sie übernachteten nun zumeist in befestigten Karawansereien, die von Schutzmauern umgeben waren und in denen man Verpflegung bekommen konnte. Manchmal hatte sich um die Karawanserei eine kleine Siedlung gebildet. Li behielt kaum einen der Namen dieser Orte. Kamen sie in eine der größeren Handelsstädte auf ihrem Weg, blieben sie ein oder zwei Tage, verkauften etwas von ihren Waren und erwarben dafür andere Güter. Zwischen Merw und Nischapur begleiteten sie eine Gruppe von Pilgern, die nach Mekka wollten und froh waren, zumindest diesen Teil ihres weiten Wegs mit ihnen gemeinsam zu haben.
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