Die Parallelklasse - Ahmed ich und die anderen - Die Luege von der Chancengleichheit
weiteren Wochen und einigen freundlichen Erinnerungen von mir schreibt Murat zurück: »Sorry, habe kein Bock auf Treffen, ich mag nicht, wenn man mir Fragen stellt!« Ich antworte darauf nicht ganz ehrlich: »Es soll gar kein Interview sein, nur ein nettes Wiedersehen.« Murats Reaktion: »Ok, ok, ich melde mich.« Es wird nach dieser Nachricht weitere drei Wochen dauern, bis wir uns wiedersehen. Immerhin. Von Ahmed dagegen: nach wie vor kein Lebenszeichen. Seine Mailbox ist mittlerweile voll mit Nachrichten von mir. Ich komme mir aufdringlich vor. Vielleicht war es naiv zu denken, jeder werde gerne an die Vergangenheit erinnert.
Mittlerweile habe ich fast alle Mitschüler kontaktiert. Manche habe ich im Telefonbuch gefunden, andere über das Einwohnermeldeamt oder durch glückliche Zufälle. Die meisten aber im Internet. Von Profilbildern in so genannten sozialen Netzwerken lächeln mir fremde Gesichter entgegen, deren Grundzüge mir doch bekannt vorkommen. Haare sind ausgefallen, Bäuche gewachsen, Kinder klettern ins Bild, Sorgenfalten sind entstanden. Die ersten Reaktionen auf mein Anschreiben sind so, wie ich sie mir vorgestellt habe: »Hey! Wahnsinn!« »Das ist ja ewig her!« »Oh Mann, weißt du noch?« »Klar, ich erinnere mich!« »Lustig, habe letztens erst an dich gedacht!« »Cool, habe deinen Namen mal irgendwo gelesen!« »Der Patrick!« »Wer hätte das gedacht?« »Krass, dich gibt’s noch!« »Boah!« »Was?« »Verdammt, waren wir klein!« »Hast du Fotos von damals?« Grundschulnostalgie eben. Die Menschen in meinem Alter, die ich kenne, sind gerne nostalgisch. Sie sind schon nostalgisch, noch während sie etwas erleben – oder auch ohne etwas erlebt zu haben. Deswegen boomen iPhone-Apps, mit deren Hilfe man Fotos so bearbeiten kann, dass sie aussehen, als seien sie in den 1960er, 1970er oder 1980er Jahren entstanden. Deswegen versammeln sich auf überaus erfolgreichen Online-Angeboten wie stayfriends.de in Erinnerungs-Foren die alten Cliquen wie einst in der Raucherecke. Deswegen erreichte mich unlängst keine acht Jahre nach dem Abitur die feierliche Einladung zu einem Stufentreffen, mit »gemeinsamer Begehung des Schulgeländes«. Ich weiß nicht. Ich will das Schulgelände nicht schon wieder betreten. Ich bin noch immer erleichtert, es verlassen zu haben. Aber viele Menschen meiner Generation sehnen sich zurück nach dem Schulhof, nach dem Große-Pause-Gefühl, nach dem Zeugnisvergabe-Gefühl, nach dem Hitzefrei-Gefühl. Kein Wunder: Damals war alles ganz einfach. Heute ist alles sehr kompliziert. Man absolviert unzählige Praktika, wohnt in Wohnungen, die die Eltern bezahlen, eine Festanstellung ist etwas Antikes, das man nur aus Erzählungen kennt – und das mit Ende zwanzig, Mitte dreißig. Die Menschen meiner Generation denken, erwachsen sei man dann, wenn man angekommen ist. Aber ein Ziel ist nicht in Sicht. Deshalb vermissen sie die Übersichtlichkeit der Schulzeit, das Zimmer unterm Dach der Eltern, die Zeit, in der man ihnen sagte, was sie zu tun hatten. Und so schreiben sie Einladungen zu Klassentreffen, die so salbungsvoll formuliert sind, als träfe man sich nach fünfzig Jahren wieder, und markieren sich eifrig auf Klassenfotos im Internet. Einerseits können sie nicht erwachsen werden. Andererseits benehmen sie sich wie wehmütige Rentner.
Alle deutschen Mitschüler, die ich anschreibe, wollen sich gerne mit mir treffen. Sie sind ganz begeistert. Viele schreiben, sie würden »Schachi« schon manchmal vermissen. Aber mit den Mitschülern, deren Eltern nicht aus Deutschland stammen, ist es schwieriger. Murat ist kein Einzelfall. Es ist, als würde uns mehr trennen als nur die zwanzig Jahre ohne Kontakt, die mich von allen Mitschülern trennen. Arzu vertröstet mich auf »den Sommer«, sie werde sich melden. Es ist noch lange nicht Sommer. Mit Elin bin ich sogar schon verabredet, eine Stunde vor dem Treffen schickt sie mir eine Mail, es sei »etwas dazwischengekommen«, sie werde sich melden. Es vergehen drei Monate, bis ich wieder von ihr höre. Sibel kann sich »nicht einfach so mit jemand Fremdes treffen«, sie müsse mal mit ihrem Mann sprechen, sie werde sich melden, in einiger Zeit. Außer Ehsan sind nur Julian, der Deutsch-Iraner, und Fatih, der Junge mit der Eisenfaust, sofort einverstanden. Julian schreibt: »Welch angenehme Überraschung, wir finden bestimmt bald ein Zeitfenster, das uns beiden genehm ist.« Fatih schreibt: »Logo.« Über die anderen Kinder, die wir
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