Die Parallelklasse - Ahmed ich und die anderen - Die Luege von der Chancengleichheit
Zusatzunterricht identifiziert, sie sagten: ›Ey, ich bin im Nachhilfeunterricht, und ihr scheiß Deutschen nicht.‹ Schon hatten sie sich wieder abgegrenzt. Jetzt wetteifern sie mit den deutschen Mitschülern im Nachhilfeunterricht, sie wollen genauso gut sein.« Es ist ein kleiner Schritt in einer kleinen Welt voll großer Probleme. Aber ein Schritt, der zeigt, dass Frau Schach noch lange nicht aufgegeben hat.
Ich sage Frau Schach, dass ich eine Sache grundsätzlich nicht verstehe: Vor zwanzig Jahren schon kamen Kinder mit Sprachproblemen in ihre Klasse. Die Kinder wuchsen hier auf, liebten Frau Schach, leben nun ihr ganzes Leben in Deutschland. Eigentlich kann es doch nicht sein, dass die Kinder dieser Kinder nun wieder Sprachprobleme haben und die Geschichte von vorne beginnt. »Das stimmt«, sagt Frau Schach, »aber es ist leider so: Die Kinder, die heute bei uns eingeschult werden und große Schwierigkeiten haben, haben höchstens ein Elternteil, das hier aufgewachsen ist. Oft ist der Vater oder die Mutter später nach Deutschland gezogen, ohne Sprachkenntnisse. Es kann gut sein, dass einige deiner ehemaligen Mitschüler auch einen Partner gefunden haben, der neu nach Deutschland kam. Dann sprechen sie zuhause wahrscheinlich nicht Deutsch mit ihren Kindern. Und viele türkische Eltern, die beide in Deutschland großgeworden sind und gut Deutsch sprechen, wollen ihre Kinder nicht hier zur Schule schicken. Sie haben Angst, dass das Niveau zu schlecht ist.«
An meinem Arm hängt wieder der kleine Tuncay: »Spiel mit mich, hey, spiel mit mich!« Aber ich muss darüber nachdenken, was Frau Schach gerade gesagt hat. Einerseits ist es eine gute Nachricht, dass auch türkischstämmige Eltern auf der Suche nach guten Schulen sind. Dass auch türkischstämmige Eltern zur Mittelschicht gehören. Andererseits ist es eine schrecklich Nachricht.
Denn wenn alle fliehen: Wer soll die Blücher-Grundschule retten?
4.
Die Getriebenen
Facebook hilft mir bei der Suche nach meinen Mitschülern. Aber selbst in einer Zeit, in der jede Bekanntschaft aus der Vergangenheit mit nur wenigen Klicks erreichbar ist, wird schnell deutlich, wie weit sich jemand, mit dem man mal viel zu tun hatte, von einem selbst entfernt hat. Zum Beispiel Murat und Ehsan. Murat, Sohn türkischer Einwanderer. Ehsan, Sohn iranischer Einwanderer. Von beiden weiß ich noch, dass Herr Seibel ihnen Brillen verpassen ließ, deren Gläser sehr dick waren. Murat trug immer einen grauen Strickpullover, egal, wie warm oder kalt es war. Murat hatte nie Zeit, er spielte wenig mit uns, musste nach der Schule immer gleich nach Hause. Er war ein schüchterner Junge. Ehsan war der Kleinste von uns. Er sah aus wie eine Schildkröte. Ich mochte ihn.
Beide entdecke ich auf Facebook. Murat trägt dort den Namen eines Spielers vom Fußballclub Fenerbahce Istanbul, ich erkenne ihn nur, weil er bereits mit Ehsan »befreundet« ist. Beiden schreibe ich, was ich allen ehemaligen Mitschülern schreibe: dass es mich freuen würde, sie nach langer Zeit wiederzutreffen und zu erfahren, was sie in den vergangenen zwei Jahrzehnten erlebt haben. Ehsan antwortet sofort. Es sei schön, von mir zu hören. Wir könnten uns bald treffen. Er nennt einige Tage, an denen er Zeit hätte, und ein Café, das jeder kennt, der in unserer Gegend wohnt. Murat antwortet erst nach drei Wochen. »Ok, lass uns treffen!!!« Ich schreibe: »Das ist schön. Wann hast du Zeit?« Wiederum nach einer Woche schreibt Murat: »Ich arbeite die ganze Zeit. Habe auch abends keine Zeit.« Andererseits kann ich jeden Abend sehen, dass er auch mal frei hat. Murat nutzt mit seinem Handy einen Dienst, der seinen Online-Freuden anzeigt, wo er gerade ist. Ich erfahre nicht nur, dass er am Flughafen Schönefeld arbeitet (meist beginnt sein Dienst um sieben Uhr morgens), sondern auch, wann er in die Shisha-Bar geht (montags und donnerstags, mit einem Kerl namens Mustafa), wann er Fußball spielt (in der Regel Dienstagnachmittag) oder wann er mit der U-Bahn nach der Arbeit wieder in Kreuzberg ankommt, wo er offenbar noch immer wohnt (gegen 15 Uhr, wenn er Frühschicht hat, gegen 23 Uhr, wenn er Spätschicht hat). Über zwanzig Jahre war Murat aus meinem Leben verschwunden und jetzt bin ich plötzlich live dabei, wenn er an irgendeiner Tankstelle »eincheckt«, wie mir gemeldet wird.
Ich schreibe Murat erneut: »Es eilt nicht, ich freue mich aber wirklich sehr, wenn du es trotz der Arbeit mal einrichten kannst.« Nach zwei
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