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Die Parallelklasse - Ahmed ich und die anderen - Die Luege von der Chancengleichheit

Die Parallelklasse - Ahmed ich und die anderen - Die Luege von der Chancengleichheit

Titel: Die Parallelklasse - Ahmed ich und die anderen - Die Luege von der Chancengleichheit Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Patrick Bauer
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Getriebener. Er will sich keine Pause leisten.
    Man kann tatsächlich nicht sagen, dass Fatih von seinen Eltern gedrängt wurde zu studieren. Man kann nicht mal sagen, dass er selbst es eilig hatte zu studieren. Er sei viel »rumgehangen«, sagt er, hatte keinen Bock auf irgendwas. Aber jetzt ist er Architekt. Er sagt, das sei einfach so passiert. Manchmal habe er ein schlechtes Gewissen, weil er nicht mal während des Studiums besonders fleißig war, es fiel ihm einfach leicht. Die Schule war ihm nie besonders leicht gefallen, aber die Noten stimmten. »Ich bin durch die Schule gekommen, ohne aufzufallen«, sagt Fatih. Nur sein Name, der habe den Lehrern Schwierigkeiten gemacht: Vati, Vatisch, Wati, Fathie, sie haben es nie gelernt. Es heißt Fahtich.
    Ich warte auf Fatih an einem U-Bahnhof und als er aus dem Waggon steigt, überragt er alle. Fatih ist fast zwei Meter groß. Ich habe vorher lange überlegt, was wohl aus ihm geworden ist. Ich dachte, er würde vielleicht ein Boxstudio betreiben. Oder wäre Türsteher. Aber Fatih war nie ein Schläger. Er war nur ein Gerechtigkeitsfanatiker.
    Fatih begrüßt mich mit: »Sieh an, der kleine Patrick!«
    »Du weißt schon, dass ich Angst hatte vor dir«, sage ich.
    »Wieso denn«, fragt Fatih.
    »Na, wegen der Schläge, die du mir verpasst hast!«
    »Ich habe dich geschlagen?«
    »In Kunst, bei Herrn Bimmel, zehnmal, auf die Schulter!«
    »Was? Davon weiß ich nichts mehr! Wieso denn nur?«
    Wir laufen an einer langen Warteschlange vor einem Dönerladen entlang. Ich beuge mich vor zu Fatih.
    »Weil ich deine Mutter beleidigt habe, aus Versehen!«
    »Du hast meine Mutter beleidigt? Hast du sie je kennen gelernt?«
    »Nein, ich wollte sie auch gar nicht beleidigen …«
    »Was hast du denn gesagt?«
    Ich wiederhole die Worte leise. Fatih bleibt stehen.
    »Spinnst du?«
    »Hey, ich wusste ja gar nicht, was ich da sage!« Ich gehe ein paar Schritte zurück.
    Fatih schüttelt sich vor Lachen. Dann packt er seine große Hand auf meine Schulter. »Du warst ja ein echtes Ghetto-Kind! Tut mir leid, aber offenbar hattest du die Schläge verdient.«
    Fatih sagt, er habe bisher stolz behauptet, nie in seinem Leben jemanden geschlagen zu haben. Er habe den Vorfall wohl verdrängt. Erst kürzlich habe er seinem Cousin, 17 Jahre, gesagt, dass er sich mal ein Beispiel nehmen solle. Der Cousin wurde wegen schwerer Körperverletzung zu vielen Sozialstunden verurteilt. Er treibt sich rum auf der Straße, in der schon Fatih aufgewachsen ist. »Die Kids heute sind krasser drauf als wir früher«, sagt Fatih. Ich sage ihm, dass das schon der Hausmeister behauptet hat. »Es ist auch so«, sagt Fatih, »ich weiß nicht, woran es liegt, aber die sind verwahrlost, die bewaffnen sich schon in der Grundschule und wenn die Schule vorbei ist, gehen sie raus und kloppen sinnlos eine Parkbank kaputt oder so. Das hätten wir uns nie getraut.« Fatih spricht oft von »den Türken«. Er sagt: »Gerade die jungen Türken sind krass drauf.« Oder: »Die Türken sind halt so.« Oder: »Du weißt ja, wie die Türken sind.« Ich frage ihn, ob er sich als Deutscher fühlt oder als Türke. Fatih sagt: »Wenn ich in der Türkei bin, fühle ich mich als Deutscher. Wenn ich hier bin, fühle ich mich als Türke. Denn in der Türkei nennen sie mich einen Almanya, hier nennen sie mich einen Türken. Bei allen meinen Praktika wurde mir gesagt, es sei ja toll, dass auch mal ein Türke komme. Ich habe einen deutschen Pass verdammt. Aber im letzten Architektenbüro haben sie mich ernsthaft ›unseren Türken‹ genannt.«
    Fatihs Vater haben sie in der Fabrik nie einen Türken genannt. Alle seine Kollegen waren Türken. Zuhause waren die Nachbarn türkisch, der Supermarkt war türkisch, das Fernsehen war türkisch. »Meine Eltern«, sagt Fatih, »sind klassische Gastarbeiter.« Sie arbeiteten hier, um irgendwann genug Geld zu haben, um sich in der Heimat, an der Schwarzmeerküste, ein Haus leisten zu können. Heute arbeiten die Eltern nicht mehr. Genug Geld für ein Haus am Meer haben sie nicht zusammenbekommen. Jetzt sitzen sie im begrünten Hinterhof, den sie zu einer türkischen Oase gestaltet haben, und tratschen mit den anderen Pensionierten, die damals mit ihnen ins graue Kreuzberg der achtziger Jahre gekommen waren. Letztens saß Fatih in so einer Runde, es gab Köfte und Raki. Fatih war sauer, er schimpfte über Thilo Sarrazin. Sein Vater hörte ihm geduldig zu. Dann fragte er: »Wer ist dieser Sarrazin, ein

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