Die Parallelklasse - Ahmed ich und die anderen - Die Luege von der Chancengleichheit
Nach zwei Wochen im Koma wacht der Pole auf. Und Cem bekommt eine allerletzte Chance. »Mein Anwalt hat gesagt, ich solle weinen vor Gericht, das war ein alter, netter Jugendrichter«, sagt Cem, er muss in einem Tierheim arbeiten, fast ein ganzes Jahr lang, »aber sie haben mich nicht hart rangenommen, ich wurde immer verschont, obwohl ich niemanden verschont habe. Ich hätte auch mal aufs Maul bekommen sollen.« Ich sage Cem, dass er doch schon oft genug aufs Maul bekommen habe vorher, im übertragenen Sinne. »Ich habe aber immer härter zurückgeschlagen«, sagt er.
Der Vater, zu diesem Zeitpunkt schon fast zwanzig Jahre arbeitslos, wacht nach Cems brutaler Tat ebenfalls aus seinem komatösen Leben auf. Er sagt Cem, dass es so nicht weitergehe. Die Mutter trinkt nur. Cem bekommt einen Praktikumsplatz in einer Druckerei, er macht sich gut, der Chef mag seine offene Art und ist streng mit Cem. Er wird übernommen, er hat nie einen Schulabschluss gemacht, kann nur holpernd lesen und schreibt nie etwas, aber mit den Druckpressen kennt er sich aus. Im Büro des Chefs lernt er Tanja kennen, seine jetzige Freundin, Frau Müller. »Die deutscheste Deutsche«, sagt Cem, »Sekretärin, Engel, Familienmensch«. Er zieht zu Tanja an den Stadtrand. »Ich wollte die Stadt vor mir schützen und mich vor der Stadt«, sagt Cem, »da draußen komme ich nicht in Versuchung. Keine Drogen, die ich nehmen kann, keine Leute, die ich zusammenschlagen kann.«
Nur einmal war er in den letzten zehn Jahren in einer Disco. Mit Tanja. Er trank nur Wasser. Als er die Disco verließ, stand da eine Gruppe Deutscher. »He, Scheißtürke, was willst du?«, riefen sie. Cem ging einfach weiter. Einer schubste ihn. Er ging weiter. Einer trat ihn in den Hintern. Er ging weiter. Einer verpasste ihm eine Kopfnuss. Er ging weiter. »Nur für Tanja«, sagt Cem. »Tanja will bald Kinder«, sagt Cem, »aber ich brauche erst wieder einen Job.« Die Druckerei musste Stellen abbauen, Cems Stelle war die erste, die gestrichen wurde. Jetzt sitzt er jeden Tag zuhause und guckt Zoo-Dokumentarfilme. »Das entspannt mich«, sagt Cem, »aber wo soll ich je wieder Arbeit finden, wer will einen Ungelernten mit fettem Strafregister?« Tanja finanziert das meiste in ihrem Leben, den Urlaub an der Ostsee, den großen Fernseher, die gute Nudelsorte. »Sie weiß, dass es immer noch besser ist, wenn ich zuhause sitze, als wenn ich in die Stadt gehe.«
»Wie oft gehst du denn in die Stadt?«, frage ich.
»Eigentlich nie«, sagt Cem, »nie abends, nur tagsüber, um meine Mutter und meinen Bruder zu besuchen. Heute ist das erste Mal seit einem Jahr, dass ich im Dunkeln in der Stadt bin. Ich habe auch schon lange nicht mehr so viel getrunken.«
Wir trinken unser siebtes Bier. Wir lallen. Die Deutschen glotzen. »Schau dir die Kartoffeln an«, sagt Cem, »so eine Angst haben die! Pass mal auf!« Er steht auf, stellt sich in die Mitte des Raumes, schreit: »Ey, hört mal zu jetzt!« Die Musik läuft weiter, die Gespräche auch. »Cem, bitte, setz dich«, sage ich, der ihn in die Stadt gelockt hat, im Dunkeln. Der ihm sieben Bier bezahlt hat.
Cem hört mich nicht. Er schreit: »Kartoffeln! Ruhe!« Es ist jetzt still, nur die Lounge-Musik dudelt im Hintergrund weiter. Ich sehe es schon vor mir: wie Cem den langen Typen mit den Dreadlocks provoziert, wie er ihn beschimpft, wie der Typ sich wehrt, wie Cem ihm ein Bier über den Kopf kippt und ihm eine Kopfnuss verpasst. Aber Cem schnippt nur mit den Fingern und fängt an: »Ihr guckt mich schief an – Mann – weil ich nicht so viel kann – Bamm – weil ich nicht so bin wie ihr, weil ich Temperament hab wie ein wildes Tier. Ihr wollt mich loswerden, wir leben auf zwei verschiedenen Erden. Ihr wollt, dass ich leise bin, ihr versteht nicht den tieferen Sinn. Doch ich werde mich durchkämpfen und euch die Stirn zeigen, ich hab auch einen Rest Verstand, ich überlebe in diesem beschissenen Land!«
Die zierliche Bedienung ist die Erste, die applaudiert, bald applaudieren alle. »Wollt ihr noch ein Bier?«, fragt die zierliche Bedienung. »Nein, jetzt wollen wir Schnaps«, ruft Cem.
»Ich habe dir noch gar nicht gesagt, dass ich Rapper bin«, sagt Cem. Er rappt, seitdem er denken kann, sagt er. Nicht richtig gut, aber richtig viel. Er ist dabei, mit seiner Crew, die sich »Wutbefall« nennt, ein Album fertig zu machen. »Die anderen drei sind deutsch«, sagt Cem, »die haben Familie und einen Vorgarten, wir sind nur in unseren
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