Die Parallelklasse - Ahmed ich und die anderen - Die Luege von der Chancengleichheit
Klimpern von Schminkwerkzeug, eine Klospülung. Dann, nach zwanzig Minuten, steht eine sehr dicke Frau vor mir.
Auf dem Foto, das ich von uns besitze, war Aylin ein kleines, süßes Mädchen in einem Ballerinakleidchen. Ein kleines, süßes Mädchen mit einem strengen Vater. Einmal machten wir einen Klassenausflug, in der zweiten Klasse muss das gewesen sein. Auf der Straße begegneten wir Aylins Vater. Bis heute kann ich schwören: Ich habe Aylin in meinem Leben kein einziges Mal geärgert. Ahmed war fürs Ärgern zuständig. Ich fürs Trösten. Ich hatte bis zu diesem Ausflug überhaupt keine Geschichte mit Aylin, sie war ein kleines, süßes Mädchen in einem Ballerinakleidchen, ich ein kleiner, blasser Junge in einem Nicki-Pullover. Der Vater aber nahm mich zur Seite, als Frau Schach schon wieder voranging. Er packte mich am Arm und sagte: »Patrick, du frecher Junge, wenn du noch einmal meine Tochter ärgerst oder doof anguckst, dann komme ich wieder vorbei und schneide dir deine Ohren ab.« Dann ging er. Er erinnerte mich an Ahmeds Vater, aber er wirkte weniger lustig. Aylin grinste mich an und hüpfte davon in ihrem Ballerinakleidchen, das sie an diesem Tag wahrscheinlich gar nicht trug. Ich habe niemandem von diesem Erlebnis erzählt, es war eines dieser Erlebnisse, das mir schon als Kind so absurd, ungerecht und kompliziert erschien, dass es zu aufwändig gewesen wäre, es meinen Eltern zu berichten. Ich mied danach den Kontakt zu Aylin, den ich nie gehabt hatte. Und ich war ein bisschen stolz. Wenn sie sich bei ihrem Vater über mich beschwert hatte, ohne dass es Anlass dafür gegeben hatte, dann musste sie mich ja wohl sehr interessant finden, dachte ich, diese kleine, süße Aylin in ihrem Ballerinakleidchen.
Die kleine, süße Aylin ist jetzt eine kleine, runde, raue Aylin. Ihr Gesicht ist bis zur Konturlosigkeit geschminkt, an ihrem Hals verläuft eine lange, frische Narbe. Aylins Stimme ist tiefer als meine: »Patrick? Aus der Grundschule? Was geht ab?« Aylin wankt. Sie hält sich am Türrahmen fest. »Ich fasse es nicht«, stammelt sie, dann weint sie ein leises Weinen. Die Tränen hinterlassen tiefe Spuren in ihrem Make-up. »Entschuldigung«, brummt Aylin, »das ist so lange her, so viele Erinnerungen. Mir wurde gerade eine Schilddrüse entfernt. Das ist so ein Hirnfick, dass du plötzlich vor meiner Tür stehst. Du kannst mich doch nicht so überfallen.« »Eine schlimme Krankheit?«, frage ich. »Marlboro Light, zwei Schachteln am Tag«, brummt Aylin. Im Hintergrund schreit die andere Frau. Das Kind schreit zurück.
»Dein Kind?«, frage ich.
»Ja«, brummt Aylin, »ich würde dich reinbitten, aber ich wohne hier nicht alleine.«
»War das gerade der Vater deines Kindes?«, frage ich.
»Nein«, brummt Aylin.
»Wo wohnst du denn?«, fragt sie.
»Ich bin gerade nach Neukölln gezogen«, sage ich.
»Pfui, Neukölln«, sagt Aylin, »wie eklig.«
Wir stehen in diesem dunklen, nach Hausmüll und billigem Schnaps stinkenden Treppenhaus im Todesstreifen von Kreuzberg, in einem Haus, dessen Fahrstuhl eine gefährliche Lotterie ist, aber Aylin besitzt den gleichen gesunden, großen Kreuzberger Lokalpatriotismus, den ich schon an Murat und Fatih beobachten konnte. »In Neukölln wohnen viel zu viele Araber«, sagt Aylin, »viel zu viele Ausländer. Die machen Dreck.«
Während wir noch reden, schließt sie ganz langsam die Haustür. »Schreib mal meine Handynummer auf«, sagt Aylin, »ruf mich jederzeit an, dann treffen wir uns, ganz sicher, versprochen, aber jetzt ist es schlecht, ich muss mich erholen.« Als ich die Nummer notiert habe, fällt die Tür ins Schloss. Aylins tiefe Stimme schreit etwas. Die andere Frau schreit zurück. Dann schreit das Kind.
Ein paar Tage später rufe ich Aylin an. Sie geht nicht ans Telefon. Sie geht nie ans Telefon in den darauffolgenden Wochen. Ich kenne das bereits. Dann schreibt sie eine SMS: »Hallo Patrick. Ich habe eine neue Nummer ab morgen, weil mein Exfreund Terror macht. Ruf mich da an.« Ich rufe einige Male die neue Nummer an. Doch wieder: keine Reaktion. Es wird nichts mehr mit meinen Klassenkameraden, mir und dem Telefonieren.
Nur Sibel geht gleich ans Telefon. Auch Sibel wohnt in einem dieser Neubaukomplexe, die in den siebziger und achtziger Jahren über Berlin verstreut wurden. Das Haus, in dem sie lebt, ist wie eine Brücke über eine Straße gebaut. An jedem Balkon ist mindestens eine Satellitenschüssel angebracht. Satellitenschüsseln sind
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