Die Patchwork-Luege
wir als hohes Gut, ob in hetero- oder homosexueller Konstellation, aber in Form der seriellen Monogamie.
Bislang konnte die Familie jegliche Zersetzungsbestrebungen abwehren. Sie wandelte sich zwar fortwährend, aber als Lebensform setzte sie sich immer wieder durch, woran auch die Rebellion der Achtundsechziger nichts ändern konnte. In Dieter Kunzelmanns Autobiographie Leisten Sie keinen Widerstand! Bilder aus meinem Leben entdeckt man einige Fotos, die verraten, dass sogar der Gründer der Kommune I familialen Symbolen zugetan war. Im Schwabinger Atelier hing etwa ein Lebkuchenplakat an der Wand. Viel erstaunlicher ist aber Kunzelmanns Lobliedauf die Eltern, in dem von Entmündigung keine Rede ist: »Die Liebe meiner Mutter und die Aufgeschlossenheit, Liberalität und auch Großzügigkeit meines Vaters trugen dazu bei, daß ich ein ungewöhnliches Selbstbewußtsein und vor allem einen enormen Drang nach Autonomie entwickelt habe (…). Der Grundstein für dieses Leben war in meiner Familie gelegt worden, in der ich Liebe, Sympathie und Toleranz erfuhr.«
Familie, Freunde, das ist laut der aktuellen Unicef-Studie das Wichtigste im Leben von Kindern zwischen sechs und vierzehn Jahren. »Mein Zuhause ist meine Insel, wo mir nichts passieren kann«, sagt ein Mädchen. Die Eltern sind für 97 Prozent ihrer Kinder Wertevermittler, mit ihnen wollen sie ihre Freizeit am liebsten verbringen, beklagen aber deren enge Zeitpläne. Sie sehnen sich nach Vertrauen, Ehrlichkeit, Geborgenheit. Ihre größte Angst ist eine Scheidung der Eltern.
Die Shell-Jugendstudie 2010 kam zu exakt demselben Ergebnis. Drei Viertel aller Befragten zwischen zwölf und fünfundzwanzig sind überzeugt, in einer Familie ihr Glück zu finden.
Noch nie war der Wunsch von Kindern und Jugendlichen, eine Familie zu gründen, so groß wie heute. Es war aber auch noch nie so schwer, ihn zu verwirklichen.
Damit es so weit kommen konnte, musste viel geschehen. Das Getriebe einer Gesellschaft verändert sich schleichend, und es verändert sich irreversibel, wenn an den entscheidenden Schrauben gedreht wird. Die größte Macht auf Lebensszenarien entfalten Impulse aus der Wirtschaftund Politik, sie beeinflussen den Stellenwert der Familie, die Idee der Kindheit, unsere Arbeits- und Lebenswelt, unsere Vorstellungen und Ideale.
Das geschieht im Augenblick – und die Ruhe, mit der das vor sich geht, ist beunruhigend.
4. Scheidungskinder
An einem Novembertag rief eine Freundin an, die sich länger nicht gemeldet hatte, ihr Mann zog gerade aus der gemeinsamen Wohnung aus. Er hatte eine Frau kennengelernt, mit der er glaubte, glücklich zu werden. Er kannte diese Frau bereits, als er die Freundin heiratete und mit ihr ein Kind zeugte. Aber erst jetzt war er sich seiner Sache absolut sicher.
Die Berliner Wohnung, in der er mit seiner mittlerweile geschiedenen Frau lebte, ist groß und hell, mit Parkett, hohen Decken, Stuck. Auf dem Parkett stapelten sich an jenem Tag Kisten. Zwischen den Kisten krabbelte die sechs Monate alte Tochter. Manchmal blickte sie auf und schaute von der Mutter zum Vater. Der Vater sagte: »Ich will meine Tochter regelmäßig sehen, besonders an den Wochenenden.«
Seither sind einige Monate vergangen. Die Wochenenden verbringt der Vater hauptsächlich mit seiner neuen Freundin. Sein Kind sieht er an zwei Samstagen im Monat und an den Feiertagen. Er sagt: »Für mich ist das gut so.«
Das ist der Unterschied zwischen Müttern und Vätern. Mütter bleiben Mütter. Väter nicht immer Väter.
Eine andere Trennungsgeschichte: Die Mutter kommt nach langem Gebrüll mit dem Vater ins Zimmer der beiden Kinder, die die ganze Zeit besorgt an der Tür gelauschthatten, weil ihre Eltern sich eigentlich nie gegenseitig angeschrien hatten. Sie sagt: »Wir ziehen aus. Ich lass mich scheiden.« Vier Wochen später leben sie in einer neuen Stadt. Die Tochter, eben erst eingeschult, muss die Schule wechseln.
Oder der Vater, der seine Kinder in den Ferien bei der Mutter abholt, um mit ihnen 600 Kilometer dorthin zu fahren, wo er nun wohnt. Um die Befangenheit, die Fremde am Anfang zu überspielen, spielt er mit seinen Kindern »Ich packe meinen Koffer«. Das Mädchen spielt mit, der Junge heult. Er hört nicht auf zu heulen, bis ihn der Vater nach 200 Kilometern anschreit und umkehrt. Er bringt die Kinder zurück zur Mutter. Beim Abschied mitten in der Nacht sagt er: »Ich würde jetzt am liebsten gegen den nächsten Baum fahren.«
Oder die Mutter,
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