Die Patchwork-Luege
deren Dauer. Wallerstein befragte über ein Vierteljahrhundert hinweg 131 Kinder geschiedener Eltern. Die Generation der ersten großen Welle von Scheidungskindern ist jetzt erwachsen. Wie fühlten sie sich fünf, wie zehn Jahre nach der Scheidung? Wie fühlten sie sich in ihrer Pubertät und wie heute? Warum lieben sie, wie sie lieben? Und warum misslingen ihre Beziehungen häufiger als die von Menschen aus intakten Familien?
Scheidungskinder sind Manager ihrer Gefühle. Wessen Vater oder Mutter hunderte von Kilometern entfernt lebt, kann sich nicht dienstags einen Gutenachtkuss wünschen und am falschen Wochenende fragen, ob man gemeinsam in den Zoo geht. Man muss warten. Freilich ist auch in intakten Familien nicht jeder Kinderwunsch automatisch erfüllbar, und er soll das ja auch gar nicht sein – aber zumindest sind die meisten Wünsche nicht von vornherein ausgeschlossen.
Scheidungskindern bleibt nichts anderes übrig, als ihreBedürfnisse und Gefühle wie Heimweh und Einsamkeit zu unterdrücken. Den strikten Zeitplan, dem sie ihre Empfindungen unterwerfen, entwerfen nicht sie selbst, sondern ihre Eltern. Gut möglich, dass Scheidungskinder vorgeben zu weinen, weil ihr Bauch schmerzt, tatsächlich vermissen sie den fernen Elternteil, doch diese Wahrheit würde den Stiefvater/die Stiefmutter verletzen, und das will das Kind nicht. Es zieht sich in sich selbst zurück, damit sein Kummer niemanden belastet.
Sensible Kinder ertragen traurige Eltern nicht, als trügen sie selbst die Verantwortung für deren Tränen. Manche machen solche Situationen zu »Versorgerkindern«. Mädchen sind dafür besonders anfällig. »Viele junge Mädchen füllen freiwillig das Vakuum, das Eltern hinterlassen, die nach einer Scheidung einen emotionalen und manchmal auch psychischen Zusammenbruch erleiden«, schreibt Wallerstein.
Wodurch zeichnet sich ein »Versorgerkind« aus? Es sieht seine Aufgabe darin, das Leben der Mutter oder des Vaters am Laufen zu halten, der Alltag muss funktionieren, als wäre nichts geschehen. Es ist Mentor, Vertrauter, Ratgeber, je nachdem, in welcher Funktion es am meisten gebraucht wird. Sein Sich-Kümmern ist grenzenlos: Es tröstet, kocht, erledigt Einkäufe, achtet auf die Geschwister. Nach und nach verwischen sich die Grenzen zwischen den Generationen, irgendwann haben sich die Rollen komplett vertauscht.
In einem Blog erzählte eine junge Frau, wie die Scheidung ihrer Mutter den Boden unter den Füßen weggezogenhat; sie selbst war damals neun, ihr Bruder sieben. Die Augen der Mutter waren jeden Morgen verquollen, sie schlurfte durch die Wohnung, vernachlässigte ihr Äußeres. An ein gemeinsames Frühstück, an irgendetwas Gemeinsames war nicht zu denken. Die Mutter war ganz mit sich selbst beschäftigt. Das Mädchen musste über Nacht erwachsen werden. Es stellte den Wecker, machte ihrer Mutter das Frühstück, drängte sie, ins Büro zu gehen, sie sollte ihre halbe Stelle nicht verlieren. Den Bruder versorgte das Mädchen mit. Früher war sie eine hervorragende Schülerin, jetzt wurde sie eine miserable. Früher hatte sie viele Freunde, jetzt blieb ihr dafür keine Zeit mehr. Die Vorstellung, sie sei der einzige Mensch, der die Mutter vor dem Untergang bewahren, sie retten könne, setzte sich in ihren Gedanken fest. Nach ebendiesem Muster wählte sie später ihre Partner aus, versagte sich selbst jedes Bedürfnis, worin sie ja geübt war, gab sich für den anderen auf und fühlte sich unglücklich. Bis sie wirklich verstand, warum sie tat, was sie tat, bis sie den Mut aufbrachte, aus ihrem Korsett auszubrechen. Kein Mensch ist ein determiniertes Wesen, niemand ist nur ein Opfer der Vergangenheit und der Zukunft aufgrund seiner Geschichte ausgeliefert.
Die Dämonen der Kindheit können die Dämonen des Erwachsenenlebens sein, sie müssen es aber nicht bleiben.
In seinem Buch Die Liebe der Väter schreibt Thomas Hettche: »Tatsächlich haben mich Frauen, die ohne ihren Vater aufgewachsen sind, immer am meisten beeindruckt, sind sie doch oft auf eine klare Weise rational, der man anmerkt, dass sie sich die Rationalität ihrer Väter selbsthaben erfinden müssen.« Zur Nüchternheit, zur Gefühlsrationalität sind sie viel zu früh erzogen worden.
Diese Nüchternheit hat auch ihre guten Seiten. Scheidungskindern wird eine frühe Reife und große Selbständigkeit nachgesagt. Wer sich in jungen Jahren selbst retten musste, wird es im Zweifelsfall wieder tun, anstatt sich darauf zu verlassen,
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