Die Patchwork-Luege
dass ihm jemand hilft. Das Wissen um die eigene Kraft trägt einen über vieles hinweg. Es ist nicht so, dass die Angst zu fallen verschwunden wäre, aber sie verliert ihre Macht. Das leise Unbehagen, das bleibt, integrieren Scheidungskinder in ihr Gefühlsleben.
Trotzdem leben Scheidungskinder in einem Paralleluniversum, von dem sich Kinder aus intakten Familien keine Vorstellung machen. Scheidungskinder haben einen Elternteil verloren. »Die seelische Belastung für die Kinder ist dabei manchmal größer, als wenn der Vater oder die Mutter stirbt«, sagt Tobias Banaschewski. Das klingt unvorstellbar. Und es klingt unerhört. Aber es leuchtet ein. Im Todesfall bleiben das positive Vater- oder Mutterbild und die Liebesbeziehung der Eltern zueinander bestehen. Dem Kind stellt sich nicht die fundamentale Frage: »Bin ich schuld?« Die Schuldfrage ist gleichzeitig die Liebesfrage: »Liebt er/sie mich nicht genug?« So muss es sein, glaubt das Kind, sonst wäre er/sie nicht gegangen. Was bleibt, ist die Kinderfrage; die Frage nach dem »Warum«.
Einigermaßen zynisch ist die Bemerkung der Deutschen Bahn, für Kinder gebe es wohl nichts Schöneres als die erste Reise ohne Eltern. Das mag stimmen, wenn man mit seiner besten Freundin ins Ferienlager nach Juist fährt.Das Pendeln zwischen Mutter und Vater bedeutet: Koffer ein- und auspacken. In einem fremden Bett schlafen. Menschen begegnen, die plötzlich zur Familie gehören, was großartig sein kann oder fürchterlich. Acht geben, den Vater nicht versehentlich beim Namen des Stiefvaters zu nennen. Unterschiedliche Erziehungsstile. Eine Stiefmutter, die nackt über den Flur ins Ankleidezimmer läuft, während die eigene Mutter stets peinlich berührt ihren Körper verhüllt. Ein Stiefvater, der im Schlafanzug frühstückt und auch sonst keine Manieren hat. Stiefgeschwister, die um Liebe und Aufmerksamkeit konkurrieren. Eltern lieben ihre eigenen Kinder naturgemäß am meisten. Die nichtverwandten Kinder spüren, dass sie gegen diesen biologischen Mechanismus absolut chancenlos sind, ohne zu wissen, weshalb. Zurückgewiesen werden ist eine brutale Erfahrung. Für Kinder ist sie besonders brutal. Sie beziehen die Ablehnung ganz allein auf sich, weil sie die Zusammenhänge in ihrer Gesamtheit und ihrer Wucht nicht begreifen. Wahrscheinlich ist die Liebe eines Kindes die aufrichtigste Liebe überhaupt. Diese Bedingungslosigkeit des Liebens fordert das Kind zurück.
Die Frage, ob man seine Mutter oder seinen Vater sympathisch findet, stellt sich einem Kind nicht. Die Frage, wie es sich mit dem Stiefvater, der Stiefmutter verhält, schon.
Pendeln bedeutet ewiges Abschiednehmen. Unmöglich, sich daran zu gewöhnen. Auf Bahnsteigen stehen, die Uhr anstarren, in der Hoffnung, der Zug möge sich verspäten, ausfallen – oder früher einfahren. Hoffen, dassetwas geschieht. Aber es geschieht nichts. Der Zug kommt, man steigt ein. Die Beziehung, die man eben noch für einige Tage aufgewärmt hat, muss wieder abkühlen. Bei der nächsten Begegnung wird die Vertrautheit von neuem verhandelt. Fragt man Scheidungskinder, welches Fest sie am meisten fürchten, antworten sie: Weihnachten. Weihnachten stürzt sie jedes Jahr in dieselben Konflikte. Sie kennen zwei Weihnachten, das vor der Scheidung und das danach. Mit wem sollen, wollen sie das Fest, das für Kinder wenig mit Christentum und viel mit Familie zu tun hat, feiern? Mit der Mutter? Dem Vater?
Manchmal verbringen geschiedene Eltern Heiligabend gemeinsam unter einem Weihnachtsbaum, der Vater schneidet die Gans mit einem Gesichtsausdruck an, als wäre alles gut, und zieht sich später ins Gästezimmer zurück. Wie die Schweigers in der Bunten spielen manche Eltern mit ihren Kindern Weihnachtsfest.
»Papa, wer bist du?«, unter diesem Titel schrieb eine Tochter in der Zeitschrift Emotion : »Die erste große Scheidungswelle der Achtundsechziger-Generation überflutete auch unsere Villa in Hamburg und ließ mich mit einer alleinerziehenden Mutter plus gerade geborener Schwester zurück. Es folgten Jahre der krampfigen Wochenendtreffen, in denen mir mein Vater von Mal zu Mal fremder wurde. (…) Heute sehe ich ihn nur noch alle paar Jahre. Ich studiere sein Gesicht, seine Hände, versuche mich in ihm zu erkennen, ein Gefühl zu fühlen – aber es passiert nichts. Er ist 69, ich bin 43, und irgendwann im Laufe der Jahre, schleichend, aber stetig haben wir uns verloren.«
Um zu wissen, was unwiederbringlich heißt, muss man es
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