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Die Patchwork-Luege

Titel: Die Patchwork-Luege Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Melanie Muehl
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erlebt, etwas Bedeutsames verloren haben. Die Liebe, die Scheidungskindern abhanden gekommen ist, ist nicht zu kompensieren. Ganz gleich, zu welchem Erfolg sie ihr Ehrgeiz später treibt, ob sie ein Unternehmen leiten, Krankheiten erforschen, Urteile fällen, ein Haus auf dem Land besitzen – die Anerkennung, die sie nicht erfahren haben, erfahren sie nie mehr, von dieser Sehnsucht müssen sie Abschied nehmen.
    Das Band zwischen zwei Menschen, die ihre Gefühle permanent kontrollieren, wird mit der Zeit porös. Möglicherweise reißt es.
    Die Empfindungen eines Vaters oder einer Mutter, die ihr Kind selten sehen, verändern sich zwangsläufig, sie flauen ab, und es ist zwecklos, dagegen anzukämpfen. Zwei Drittel aller Scheidungskinder verlieren im Laufe ihres Lebens den Kontakt zum Vater. Wer sein Kind nicht aus der Nähe aufwachsen sieht, schließt sich aus, und die Gefühls- und Gedankenwelt des Kindes erscheinen ihm als Rätsel. Das Kind fühlt umgekehrt genauso. Das ist seine Art, sich zu schützen. Therapeuten sprechen in diesem Zusammenhang vom Parental Alienation Syndrome , dem elterlichen Entfremdungssyndrom.
    Nähe entwickelt sich, indem man am Leben eines anderen Menschen teilhat. Aus Alltagserlebnissen entwickeln sich gemeinsame Geschichten, es entstehen sentimentale Bezüge. Auf Dauer ist alles andere der Ausnahmezustand.
    Judith Wallerstein stellte in ihrer Langzeitstudie fest,dass geschiedene Väter, unabhängig von ihrer wirtschaftlichen Lage, ihre Kinder finanziell oft im Stich lassen, weil sie sich ihrer neuen Familie gegenüber stärker in der Pflicht fühlen. Trotz der Blutsverwandtschaft würden manche Väter ihre Kinder nicht als ihre moralischen oder sozialen Erben betrachten. Sie beugen sich zwar der gesetzlichen Verpflichtung, sich an der Versorgung ihrer Kinder zu beteiligen, aber diese Verpflichtungen enden mit dem achtzehnten Geburtstag. Für das Studium zahlen sie zähneknirschend oder gar nicht. Die Erinnerungen an die Vergangenheit sind schmerzlich, eine gemeinsame Gegenwart fehlt, wahrscheinlich fühlen sie sich deshalb für die Zukunft ihrer Kinder nicht verantwortlich.
    Scheidungskinder studieren seltener, tun sie es, brechen sie ihr Studium häufiger ab, oft aus finanzieller Not. Für ihre beruflichen Möglichkeiten, ihr Einkommen, ihre Karrierechancen hat das Konsequenzen. Die bittende Frage nach Unterstützung für das Studium und das Stöhnen des Vaters am Telefon bleibt Scheidungskindern unvergessen.
    Eine Urlaubsszene: Büsum. Für einen Sommer war es viel zu kalt, und es regnete unentwegt. Nie riss die Wolkendecke auf. In die kleine Ferienwohnung am Strand, die die Familie gemietet hatte, fiel dünnes Licht. Das Kind, ein Mädchen, kletterte dauernd auf den Schoß des Vaters. Es sprach nicht, nicht mit der Mutter, nicht mit dem Bruder. Es sprach nur mit dem Vater.
    Die Beziehung zwischen Vätern und Töchtern wurde lange Zeit unterschätzt. Dabei ist sie besonders. Der Vaterist der erste Mann im Leben einer Tochter, er prägt ihr Männerbild und ist das Korrektiv zur Mutter, die mit dem Kind von Beginn an eine Einheit bildet. Aus dieser Symbiose löst sich das Kind im Laufe der ersten ein, zwei Jahre, hin- und hergerissen zwischen Bindungswünschen und Autonomiebestrebungen. Es lernt laufen, sprechen, es beginnt, sich zu orientieren, und sammelt Erfahrungen. Der Prozess der Abspaltung beginnt, das Kind durchlebt die erste Trennungskrise. Die Aufgabe des Vaters innerhalb der Dreieckskonstellation ist es, diese Krise abzufedern und Selbstvertrauen zu vermitteln. Während die Abhängigkeit von der Mutter kontinuierlich abnimmt, wird die Beziehung zum Vater wichtiger. Er verkörpert die schützende Figur, die die Familie versorgt. Das ist seine symbolische Bedeutung.
    »In der ersten ödipalen Phase um das vierte bis fünfte Lebensjahr herum und noch einmal in der zweiten ödipalen Phase während der Pubertät ist der Vater außerdem als Identifikationsobjekt unverzichtbar«, schreibt Horst Petri. Durch die Verinnerlichung seines Vorbilds verhelfe er dem Kind zur Integration seiner Triebwelt, zum Aufbau einer sozial adaptierten Ich- und Über-Ich-Struktur und, bei Jungen und Mädchen gleichermaßen, zu einer stabilen psychosexuellen Identifikation. Der Vaterverlust, sagt Petri, sei genauso traumatisch wie der Mutterverlust.
    Mit der Behauptung, Vaterlosigkeit sei der schädlichste demographische Trend einer Gesellschaft, provozierte der amerikanische Sozialhistoriker David

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