Die Patin
die Dinge nur wenig beeinflussen. Oft ist es von Vorteil, das Tempo herauszunehmen. Was am Ende herauskommt, wird vor allem denen zugeschrieben, die sich nicht zu früh festgelegt haben. Das ist Merkels Kalkül.
Wer da nach mehr Führung fragt, müsste wissen wohin er führen will? Dahin, wo ’s hingeht, würde Merkel in einem gelösten Moment sagen. Lass das Schwimmen gegen den Strom. Sei bei denen, die nicht ins Unrecht geraten. Dann kannst du jeden Tag neu aufbrechen. In der Großen Koalition hatten beide Parteien sozialpolitische Geschmeidigkeit entwickelt – die SPD aufgrund ihres Traumas mit Schröders Agenda 2010, die Rot-Grün die Macht gekostet hatte, und Merkels CDU auf dem Hintergrund der eher schwachen Resonanz der christliberalen Testfahrt der Oppositionschefin vor 2005.
Mit Blick auf die nächste Bundestagswahl produzierten beide auch so etwas wie eine Selbstblockade: Keiner wollte vorpreschen und noch mehr Wählergunst verspielen, als in der allzu großen Nähe mit dem ehemals politischen Gegner ohnehin verlorenging.
Der Staat rückt vor und schwächt die Parlamente
Für Angela Merkel bot dieses erste Kapitel Kanzlerschaft auch die Chance, die außer ihr wohl niemand verstand: Mit der Opposition relativ friedlich Politik zu machen – was noch keiner wissen konnte: viel friedlicher als anschließend mit dem angeblichen ‹Wunschpartner› FDP – und damit die Aufweichung der Parteigrenzen vorbereitet zu haben, die im Merkelschen Machtkonzept eine zunehmende Rolle spielen sollte.
Die Friedfertigkeit der Regierungsparteien in der Großen Koalition strahlte auch aus auf die politische Stimmung der kleinen Oppositionsparteien. Da gibt es Beifall für Guido Westerwelle von den Grünen, je nach Thema. Dass Opposition die Verpflichtung zur Gegnerschaft in Richtung Regierungslager bedeute, gerät immer wieder in Vergessenheit. «Unter der Großen Koalition bildet die Opposition keine Reserve-Regierung», erklärt der Politologe Herfried Münkler am 15. September 2009 im Gespräch mit tagesschau.de. Fünf Parteien als potentielle Mitspieler im Regierungslager können nicht unterscheidbar genug sein, um Gegnerschaft glaubwürdig zu inszenieren. Schnittmengen bilden sich, es gibt keine klar definierten Lager mehr. Im letzten Regierungsjahr fliegen die Fetzen in einem TV-Trio von Westerwelle, Lafontaine und Trittin wilder hin und her als in einem ‹Duell› von Frank-Walter Steinmeier, Kanzlerkandidat der SPD, und der Kanzlerin Angela Merkel. Die Ränder der Parteien kommen ins Schwimmen. Jede, außer der Linken, hat Optionen im Regierungslager und würde sich hüten, den Wunschpartner oder Retter von morgen durch gegnerische Parolen zu verstimmen.
Während die beiden ‹großen› Parteien von einst beide Federn gelassen und Sympathien füreinander entwickelt haben, gelingt es den ‹kleinen› in der Opposition nicht, auch nur einige gemeinsame oppositionelle Positionen zu entwickeln. Jeder kämpft für sich. In der Wahrnehmung der Kanzlerin ein disponibler Haufen, den man je nach Thema auseinanderdividieren oder zusammenführen kann. Die Auflösung der festen Parteigrenzen bringt Merkel dem Status näher, den sie in der nächsten Regierung als Kanzlerin erreichen will: nicht mehr Kanzlerinaller Parteien, sondern Kanzlerin aller Europäer. Nicht, weil Europa ihr Traumkontinent ist, sondern vor allem, weil es die nächstgrößere Dimension von Machtfülle ist. ‹Durchregieren› meint auch dies: die Parteigrenzen je nach Bedarf verschieben und durchlässig machen. Prinzipiell – und damit steht sie zunächst auf dem Boden des Grundgesetzes – muss jeder mit jedem regieren können. Aber die Merkel-Variante sieht in einem kleinen Detail anders aus: nicht jeder mit jedem, sondern alle unter Merkel. Mit dem Fortgang ihrer Kanzlerschaft werden die Probeläufe in Richtung Allparteien-Beschlüsse häufiger.
Der brisante Aspekt dieser Frage, ob neue Schnittmengen und Wählerbewegungen sowie Profilkorrekturen und ‹Modernisierungs›-Aktionen à la CDU die Demokratie stärken oder schwächen, ist im allgemeinen Bewusstsein noch nicht angekommen. Die Kanzlerin verweist regelmäßig auf den hohen Rang der Krisenbeschlüsse, für die sie übergreifende Mehrheiten wünscht. Nur wenige Abgeordnete erinnern regelmäßig daran, dass der demokratische Diskurs gefesselt wird, wenn über Schicksalsfragen der Nation nicht mehr kontrovers diskutiert werden darf. Das Gewicht der Entscheidungen, die seit einigen
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