Die Patin
der Moral gefragt zu werden. Darum fährt sie in eine andere Richtung fort, die ganz im Merkel-Ton eine weitere Begriffsmischung liefert, um dann aber doch bei ungewohnten Appellen zu landen. Deutschland, so ihre nächste mutige Ankündigungsfigur, brauche «die Rückkehr des Politischen. Denn Politik hat die Aufgabe, Weichen zu stellen (…) und den Menschen eine Vision, eine Hoffnung, eine Richtung zu geben.» 54 So klingt Merkel-Themenmix mit CDU-Sound.
Die Wahl 2009 kommt in Sicht, als die Kanzlerin der Großen Koalition alles auf eine Karte setzt. Worte wie seltene Erden – Moral, Hoffnung, Vision – schieben sich da zwischen unterkühlte Merkel-Prosa, wo Politik «Weichen stellt» und «über den Tellerrand» geschaut wird, alles in einem Atemzug. Ist sie jetzt richtig angekommen in der Mitte der Partei? Oder bleibt der Eigensinn, mit dem sie immer noch und für immer dem eigenen Projekt Aufstieg einen höheren Rang einräumt als jeder Moral, jeder Hoffnung und jeder Vision?
Einmal im Spitzenamt angekommen, lässt die Kanzlerin den Testfahrtmodus nur noch nebenher laufen: Dresden 2006 ist der Parteitag, an dem sie Reformdebatten gelassen an die Ministerpräsidenten delegiert. 2007 findet sie zu dem Passepartout, das immer passt: die Mitte. Ein Motto for all seasons , rund, nicht kantig, parteienübergreifend nutzbar; denn dass sie in die Mitte will, wird auch die SPD von Zeit zu Zeit mitteilen. Auch das abgelegte Testvokabular der Proberunden im CDUWortschatz wird rundgeschliffen wieder vorgelegt: Aus der ‹Neuen Sozialen Marktwirtschaft› wird kurzerhand die ‹menschliche Marktwirtschaft›.
Eine Kapitulation? Nur wer die Testfahrerin nicht aufmerksam beobachtet hat, kann zu diesem Irrtum kommen. Die Zukunftskanzlerin präsentiert nach ihren Testläufen nicht ohne inneres Vergnügen jetzt genau das, was geht. Menschliche Marktwirtschaft in der Mitte. Das heißt immerhin: Keine Kampfansage mehr, sondern der Weg des geringsten Widerstands. Sie hat es mit dem Höhenflug probiert, aber die Botschaften waren nicht ihre eigenen. Kalkulierte Politik reißt niemanden mit. Der exhumierte Erhard wurde von Merkel bald als persönliches, verspätetes Bildungserlebnis erkannt; die Neue Soziale Marktwirtschaft ein Konstrukt, nach dessen Inhalten niemand fragen durfte – und das christdemokratische Jahrhundert ein Etikettenschwindel, der zum Projekt ‹modernste Volkspartei Europas› so wenig passen wollte wie zu der kopfstarken Durchstarterin vom anderen Stern.
CDU-Traditionen passen nicht zu Merkel; und Merkel passt nur sehr bedingt zur CDU. Sie selbst weiß das seit langem. Sie hat der CDU – und ihrer eigenen Karriere – den Gefallen getan, das für alle, die schonlänger da waren, vertraute Milieu bei allen Gelegenheiten zu zitieren. Nun macht sie Bilanz und wirft den ganzen christsozialen und christliberalen Plunder über Bord: Eine «menschliche Marktwirtschaft der Mitte» soll das Ziel sein – und niemandem fällt auf, dass dies kein parteispezifisches Label mehr ist, sondern eines, das sich für jede demokratische Partei eignet. Damit ist Merkels Projekt der überparteilichen Kanzlerschaft auf eine tragfähige Basis gestellt. Der Charme, den die Undercover -Spielerin genießt, geht auch von der sprachlichen Harmlosigkeit der neuen Zielmarkierung aus: Down to earth , guter Bodenkontakt, werden viele Parteikollegen gedacht haben.Nicht mehr das Jahrhundertformat, nicht mehr die Ahnenreihe, nicht mehr der kühne Wurf über alle Ressorts, der nichts anderes war als ein Themenkatalog von Merkels Gastpartei, den die Journalisten sich am Jahrtausendanfang immer wieder geduldig angehört hatten.
Die auf den Boden gebrachte Alltagsrhetorik passt jetzt für jeden Wähler: eine menschliche Marktwirtschaft mit einer Partei der Mitte. So schlicht war der Auftritt der CDU seit Jahrzehnten nicht. Das Steile ist weg, das Intellektuelle ist raus, das mit dem neoliberalen Steuerzauber in einem einzigen höhnischen Satz von Gerhard Schröder erledigt worden war: ‹Der Professor aus Heidelberg›, Paul Kirchhof, wurde von einem Augenblick zum andern als ein elitärer Fehlgriff aus dem Tableau der CDU gefegt. Und Merkel gehorchte postwendend. Fallenlassen oder Halten sind in der Geschichte von Merkels Aufstieg zwei Seiten derselben Medaille. Nicht moralisch, nicht ethisch, nicht im Sinne von Humanitas oder Gerechtigkeit wird über Fallenlassen oder Halten entschieden, sondern einzig unter dem Aspekt: Schaden oder Nutzen
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