Die Patin
Merkel-Jahren immer häufiger einer staatstragenden Mehrheit aus allen Parteien anempfohlen werden, ist ja in Wahrheit gerade nicht ein Argument, den demokratischen Wettbewerb an die Kette zu legen. Weniger Wettbewerb im Parlament heißt mehr Staat. Und ernster: Weniger demokratisches Ringen im Wettbwerb schmälert auf jeden Fall die Chancen der gesuchten besten Lösung – gelegentlich sogar die Chancen der Wahrheit. Nur weil alle Lager ihm zustimmen, wird ein Beschluss nicht tragfähiger. Nur weil viele Abgeordnete ihre kritische Distanz zu einem Thema opfern, um das Majoritätsdogma zu erfüllen, werden die Auswirkungen einer Entscheidung nicht vor Irrtum geschützt. Im Gegenteil: Ein Allparteien-Dogma bei komplexen und eigentlich strittigen Entscheidungen schläfert die Sensibilität für Fehler ein und schmälert das Verantwortungsbewusstsein des einzelnen Volksvertreters.
Schließlich: Eine politische Führung, die immer häufiger und immer unbefangener für eine neue demokratische Welt der einigenden Mehrheitsbeschlüsse plädiert, zeigt wenig Respekt vor der Stimmenvielfaltund der gesammelten Kompetenz der Mandatsträger. Eine solche Führung zeigt, das sie die große Errungenschaft demokratischer Legitimation für ihr Handeln einem Prinzip unterordnet, das ihr mehr bedeutet als die demokratische Ordnung: Die Staatsmacht selbst wird von einer Führung, die immer wieder alle kontroversen Einsichten an einen einzigen Konsenstisch zwingt, höher geschätzt als die Macht des Souveräns, der Mandatsgeber der Abgeordneten ist, des Bürgers.
Beinahe unmerklich okkupiert der Staat Freiheitsräume, die ihm nur von Fall zu Fall gewährt und wieder entzogen werden könnten, wenn die demokratische Auseinandersetzung ihr Recht behielte. Wie durchschlagend das Revanchebedürfnis einer kleinen Gruppierung sein kann, die als Regierungspartner immer wieder vom Wettbewerb ausgeschlossen wird, hat der Befreiungsschlag der FDP bei der Präsidenten-Nominierung nach dem Rücktritt des ehemaligen Merkel-Kandidaten Wulff gezeigt: Die Verpflichtung auf gehorsames Mitspielen unter dem Kommando der Kanzlerin wurde abrupt gecancelt, durchaus im Namen der Demokratie. 51
Die drei Oppositionsparteien in der Regierungszeit der Großen Koalition haben von dem neuen Umgang mit demokratischen Spielregeln durchaus etwas gespürt. «Die parlamentarischen Regeln sind auf den Hund gekommen!», schimpft der FDP-Rechtspolitiker Max Stadler. Und Christian Ströbele, grüner Abgeordneter, wirft immerhin der Partei, mit der er selbst schon in Koalitionen unterwegs war, der SPD, vor, sie habe in diesen Jahren 2005 bis 2009 ohne Rücksicht auf das Parlament regiert. «Das Parlament hat in der Großen Koalition nicht nur erheblich an Bedeutung verloren», so Ströbele, «sondern ist gerdadezu beiseitegedrückt worden.« 52
Immerhin gelten diese Urteile aus verschiedenen Lagern der Opposition einer Gruppierung, die nicht auf eigenen Wunsch zur Regierungskoalition geworden war. CDU und SPD hatten zuvor keinen Anlass gehabt, ihre Schnittmengen zu kultivieren oder gar ihre politischen Zieleeinander anzupassen. Die gemeinsame Geringschätzung für eine Opposition aus lauter Kleinen mag sich auch deshalb bei beiden Regierungsparteien schnell durchgesetzt haben, weil beide immer noch im Bewusstsein «großer» Volksparteien regierten.
Der Trend, das Parlament zu vernachlässigen und die Opposition geringzuschätzen, ist nur schwer einzelnen Personen in der Regierung zuzuordnen. Dass die Kanzlerin sich dieser Entwicklung auf keinen Fall verweigert hat, zeigt die Zeit ihrer zweiten Kanzlerschaft – nun mit einem Partner, dessen grandioses Zwischenhoch in der Wählergunst ihn als Stimmenlieferanten qualifizierte. Ob sich das Thema Liberalismus für die Kanzlerin tatsächlich schon am Start dieser Koalition erledigte wie andere Themen ihrer Testfahrt durch das Biotop CDU, ist eine viel brisantere Frage als die meisten Beobachter denken. 53
Nicht Sachpolitik, sondern Machtpolitik: Merkels Punktlandung in der parteilosen Mitte
Merkels Umgang mit den Autoritäten, die nicht die ihren sind, auf den Bühnen der Macht ist weder von Pathos noch von Ehrfurcht geleitet.
Schon vor ihrer ersten Kanzlerschaft mischt sie das Westvokabular der Volksparteien relativ kühn. Unter Rot-Grün sieht sie das Land in desolater Verfassung: «wirtschaftlich, sozial und moralisch». Für Merkel ist das eine kühne Trias, eindeutig CDU-Vokabular, bei dem sie das Risiko eingeht, nach
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