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Die Patin

Die Patin

Titel: Die Patin Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Gertrud Höhler
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wenn sie im Kern eine Botschaft hat, die niemand kennen soll, bis die Fakten sich häufen. Und alle Partner erkennen, was da passiert ist: Marginalisierung der Parteien, Verwechselbarkeit der Programme, Nonchalance im Umgang mit Gesetzen, Aufweichung von Wert- und Normkonzepten, no commitment , Bindungslosigkeit als Zukunftsmotor, zentralistische Allgegenwart von Staat und Plan, Überwindung des Wettbewerbs.
    Wer die Herrin deutscher Wandlungsprozesse als «unberechenbar» erlebt, der kann ihre «wankelmütige Politik» nur so lange kritisieren, wie er die uns vertrauten Maßstäbe zugrundelegt, ohne zu staunen, dass diese Messlatten offenbar allesamt für die Herrin im Land nicht gelten. Ob das eine gute Voraussetzung für erfolgreiche Führung ist, fragt kaum ein Beobachter. Ob die Verwirrung beim Zuschauen vielleicht eher im Auge des Betrachters entsteht als in den «rätselhaften Winkelzügen der Angela Merkel», wagt ebenfalls kein Analytiker zu ergründen. 131
    Die Spaltung der Eindrücke, die Merkels Geheimnis in Kopf und Herz der deutschen Bürger hervorruft, spiegelt sich in den Jahren der schwarzgelben Koalition im Auseinanderdriften der Bewertungen für die Kanzlerinund für ihre Partei. Hohe Werte für die Kanzlerin stehen neben schwachen Zahlen für die CDU. Die Bürger wissen es also schon, ohne darüber zu reden: Merkel und die CDU sind zwei verschiedene Welten. Wenn sie die CDU bewerten, dann ist das nicht die «Merkel-Partei», sagen viele im Land. Wie lange wird es dauern, bis immer weniger Deutsche wissen, welcher Partei diese Kanzlerin angehört? «Ich bin keine Konservative», jene Vorwahlbotschaft der Kanzlerin, war ein Distanzierungsvotum in Richtung CDU. Dass die CDU nicht eigentlich, sondern eher zufällig «ihre» Partei sei, wird die Kanzlerin bei fortschreitender Weichzeichnung aller Parteigrenzen irgendwann einfließen lassen – en passant , wie jenen Satz am Tag ihres Staatsstreichs in Sachen Energie, den offenbar niemand hörte, jedenfalls aber niemand zitieren wollte, weil ja das Kommando Umsturz von ganz oben kam: «Ich bleibe eine Befürworterin der Kernenergie.» So Angela Merkel am Tag ihres, übrigens des einzigen bisher von ihr als persönliches Erweckungserlebnis bezeichneten brutalen Durchgriffs auf Verträge und Gesetze, denen unzählige Beteiligte bis dahin vertraut hatten. 132 Das Erweckungsdrama war Taktik.
    Ähnlich wie damals wird die Kanzlerin in mittlerer Entfernung von heute, 2012, aus gesehen die Erledigung des Parteiensystems aus lauter schwächelnden Gruppierungen in einem großen, gleichviel wie dann übernational bezeichneten zentralistisch auf Kurs gehaltenen Tanker mitteilen, der schon heute den nationalen Schnellbooten mehr und mehr Kommandos liefert.
    Da sie eine Schweigerin sein muss, solange ihr Geheimnis eine Zumutung für die meisten Deutschen – und viele Europäer – ist, lässt sie die meisten Appelle zu «Offenheit» und «Berechenbarkeit» vorüberrauschen. Mit wertbeschwerten Zurufen hat sie ohnehin ihre Schwierigkeiten. Zugleich ist das zuverlässige Missverstehen ihres wahren Kurses – raus aus dem System, das die Appelle und Zurufe produziert, in ein System, wo die Vielstimmigkeit kontraproduktiv erscheinen wird – der belastbarste Schutz für ihr Projekt.
    Das begleitende Paradox ist nicht ohne Charme: Die Kritiker wissen nicht, dass sie selbst es sind, die der undercover Reisenden die Tarnkappe reichen, indem sie täglich Kommentare aus dem vertrauten System liefern, in dem sie, die Kanzlerin, nie unterwegs war. Die Fragen aus jenem System, das sie überwinden will, kann sie, so könnte man sagen, in ihrem System gar nicht hören. Wie soll sie dann antworten? Ihr Renommee als Chefin Deutschlands und Europas profitiert von dieser Nachrichtenarmut; wenn Merkel auftritt, gibt es keine Angst vor Überraschungen.
    Ihr häufigster Satz «Scheitert der Euro, dann scheitert Europa» ist abstrakt genug, um seine Schrecken gar nicht erst entfalten zu können. In den Ohren des Medienpublikums klingt er längst wie ein Refrain, eine Erkennungsmelodie, die neuerdings auch in der Variation vorliegt: «Gewinnt der Euro, gewinnt Europa.» Die Kanzlerin entschleunigt brisante Themen durch Sprachbausteine, die auch international streitbare Meetings ins milde Licht der Alltagsvernunft tauchen. Hat das versammelte Europa sich wieder einmal zum nächsten Griechenland-Paket durchgekämpft – oder auch nicht –, schließt die Europa-Chefin das Meeting mit

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