Die Patin
Demokratie als ein ‹lernfähiges System›. Sein Vokabular sammelt all jene wertbeschwerten Worte ein, die bei Merkel nur als Zitate aus der Welt der Noch-nicht-Angekommenen auftauchen. Zu fast allem, was er sagt, würde Merkel müde nicken. Sein Pathos ist ihr fremd. Sie will auch nicht so sprechen. Das erspart ihr die Frage, ob sie so sprechen könnte.
Also Arbeitsteilung? Er für die Leidenschaft, sie für die Vernunft? Die Niederlage ist noch zu frisch; noch fehlt der Humor für solche Gedanken. Für Merkel hat die Politik kriegerische Züge. Der Ausbruch ihres Koalitionspartners aus dem Koalitionsghetto ist der jüngste Beweis. Mit Erklärungen für den Aufstand befasst sie sich nicht. Er durfte nicht passieren. Darum wird er behandelt wie nicht passiert. Ob es ein ‹gerechter Krieg› war, den die Liberalen da anzettelten, das wäre eine Frage aus Gaucks Welt. Sie wird sich darum kümmern, dass Bellevue bald wieder weit genug von ihren Schlachtfeldern entfernt ist.
Was waren die Motive der Kanzlerin 2010 und 2012, den Kandidaten Gauck als «für die CDU nicht wählbar» zu deklarieren? Die Parteilosigkeit kann es nicht gewesen sein. Die Sympathie der SPD und der Grünen, beides Parteien, in denen Merkel bereits als Besatzungsmacht präsent ist, kann es auch nicht sein.
Ist Joachim Gauck, in der Projektplanung des Systems M, ein Rückfall? Ist er damit ein Verzögerer ihres Ausstiegs aus dem alten CDU-Latein, dem Gaucks Sprachbaukasten allzu ähnlich ist?
Warum gefällt der Kanzlerin die Allparteien-Akzeptanz des neuen Präsidenten nicht, da sie doch selbst ständig am Verschwimmen der Parteigrenzen arbeitet? Der Unterschied beunruhigt sie: Ihre Entgrenzung der Parteien hat das taktische Ziel, grenzenlos koalitionsfähig zu sein.Gaucks Einigungswirkung geschieht ohne ein taktisches Kalkül des Kandidaten: Er bindet, ohne bändigen zu wollen; er versammelt die verschiedensten Programme um sich, eben weil er nicht taktiert. Vertrauen, das er in seiner Antrittsrede als ‹Geschenk› erbittet, sammelt sich auf seiner Person, weil keine verborgene Absicht die Bürger verstimmt. Davon haben sie in drei Präsidentenwahlen genug erlebt: getarnte Ziele, verschwiegene Absichten.
Wenn Gauck in Merkels Augen ein Rückfall ist, dann wird die große Mehrheit, die ihn gewählt hat, ihre Zeit nutzen müssen, um zurückzuholen, was wir alle nicht dauerhaft entbehren wollen: den Mut der Bürger, denen ihr Staat gehört, nicht umgekehrt. Dann ist dieser Präsident kein Rückfall, sondern eine Richtigstellung.
Joachim Gauck hat öfter gesagt, die Bundesrepublik «erinnere ihn ein wenig an die DDR. Sie sei viel sozialistischer und unflexibler, als er erwartet habe». – «Mit solchen Thesen», schreibt Der Spiegel nach Gaucks Wahl, «ist Gauck für die Kanzlerin, die wie er aus dem Osten stammt, der unbequemste Präsident, den sie bislang neben sich hatte.» Aber seine Enttäuschung über Merkels doppelte Ablehnung seiner Kandidatur 2010 und 2012 wird von seinen höflichen Dankesworten an die Kanzlerin nach seiner Wahl nicht aus der Welt geschafft. «Ich verstehe sie nicht», sagte Gauck nach den drei Wahlgängen für Christian Wulff 2010.
Merkel hingegen verstand den Unterschied, den Gauck als Präsident machen würde, schon 2010 genau. Seine Unabhängigkeit ist für sie gefährlich. Zu Vertrauten bemerkte sie, Gauck sei «unpolitisch», eine Schutzbehauptung, die ihre Bedrohungsgefühle versachlichen soll. Mit «unpolitisch» meine die Kanzlerin wohl «nicht lenkbar», sagen die Spiegel -Autoren. 185
Die Kanzlerin hat noch viel mehr ernste Gründe, Gauck als eine belastende Wahl zu werten. Er ist der erste von ‹ihren› drei Präsidenten, der ihr zu nichts verpflichtet ist. Sie ist es aber gewöhnt, Loyalität als ein Schuldnerverhältnis zu behandeln. Loyale Mitarbeiter sind danach abhängige Mitarbeiter. Wulff behandelte sie in diesem Sinn, je ernster seineLage wurde, desto offener wie einen von ihr berufenen Mitarbeiter, dessen Abhängigkeit immer deutlicher werden, sollte, je länger er ausharrte. Wieder ein multifunktionaler Handlungsentwurf: Von außen kassierte sie Zustimmung für ihre Vertrauenserklärungen; den gefangenen Präsidenten hielt sie im Vertrauensghetto so lange als möglich berechenbar: Schon dieser Plan funktionierte nur auf kurzer Strecke; eine Vorwarnung, dass ihr eines Tages auch größere Formate entgleiten könnten. Eigentlich müsste sie Gaucks Freiheitsmelodie gar nicht fürchten; sie
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