Die Patin
selbst hat das Thema schon in der Großen Koalition 2005 bis 2009 beerdigt; ihr letzter Freiheitsauftritt datiert vom Leipziger Parteitag 2003. Als sie 2005 nur die halbe Macht einfuhr, in der Großen Koalition, war im Grunde auch das geplante Bündnis mit den Liberalen erledigt. Aber 2009 war die Grenzauflösung durch Themenraub bei den anderen Parteien noch nicht so weit gediehen, dass sie einen anderen Partner hätte wählen können. Wichtiger noch: Bei den Liberalen lebte das Freiheitsthema fort; sie galt es, unschädlich zu machen – was dann gründlich gelang.
Die Kanzlerin mit dem zentralistischen Machtanspruch glaubt also schon länger nicht mehr an die Macht der Freiheit. Wer Freiheit als zentrale Botschaft mitbringt, bringt sozusagen einen anderen Gott ins Spiel, von dem sie nicht genau weiß, ob er durch die Götter der sozialen Gerechtigkeit und staatlich verordneter Sicherheit wirklich entmachtet worden ist.
«Zwischen Präsidialamt und Kanzleramt liegt fortan ein Spannungsfeld», schreiben die Spiegel -Autoren im Frühjahr 2012, «das es in der Geschichte der Republik so noch nicht gab. Hier eine Regierungschefin, die die Bürger vor den Härten einer marktliberalen Gesellschaft schützen will; eine Frau, die für den Mindestlohn kämpft und die Finanzmärkte zähmen will. Dort, im Schloss, sitzt fortan ein Mann, der in erster Linie an die Eigenverantwortung der Menschen appelliert.» 186
Diese Konstellation bietet eigentlich die Chance, verspätet die Lektion zu Ende zu buchstabieren, die mit der deutschen Einigung akut wurde: Wieviel Sozialismus, wieviel Freiheit für die Menschen im geeintenDeutschland? Bei Gauck ist die Freiheit auf Platz eins geblieben, bei Merkel steht auf Platz eins die Macht; da musste die Freiheit weichen.
Alle Bundespräsidenten vor Gauck, so die herrschende Meinung, waren auch Herolde des Zeitgeistes. Joachim Gauck, so die kurzgeschlossene Folgerung, wäre mit dem Freiheitsthema also ein Präsident gegen den Zeitgeist, der auf viel Staat und viel staatlich garantierte Sicherheit und Gerechtigkeit gerichtet sei.
Gauck hat dazu bei seiner ersten Reise als Präsident, in Polen, ein paar klare Sätze abgeliefert, die nicht nur für totalitär regierte Staaten gelten: «Man kann widerstehen gegenüber der Macht eines doktrinären Zeitgeistes.» Sein Appell richtet sich an die geistige Elite des Landes. Vor allem dann, wenn «der Zeitgeist eine Vereinheitlichung des Urteils» erzeuge, müsse dieser Vereinheitlichung widersprochen werden. Und Gauck scheut sich nicht, an die jungen Polen, die ihm zuhören, sein Plädoyer zu wiederholen, nachdem er die Widerstandsfähigkeit der Jugend gelobt hat: «Sie können aber später nachweisen, dass Sie widerstehen können gegenüber der Macht eines modischen Zeitgeistes.» 187
Dem «doktrinären Zeitgeist» in unfreien Gesellschaften, so Gaucks Botschaft, entspricht der «modische Zeitgeist» in demokratischen Staaten. Beide erfordern Widerstand.
Der Bundespräsident des Startjahres 2012 hat das verdeckte Thema seiner Präsidentschaft erkannt und benannt. Joachim Gauck ist keiner «aus dem alchemistischen Machtlabor der Angela Merkel», wie Werner Weidenfeld schreibt. 188 Er bringt eine ideologische Immunlage mit, die eine Kanzlerin der situativen Volten schon das Fürchten lehren könnte.
Mit Gaucks Amtsantritt beginnt eine Probe auf das, was Deutschland will, die es so seit Merkels Sturmangriff auf die Staatsspitze nicht gegeben hat: Die Massenflucht der potentiellen Rivalen um höchste Ämter zeigt, dass die geflohenen Wettbewerber die Herausforderung Merkel nicht als eine ideologische Herausforderung verstehen wollten, weil sie alle glaubten, mit der neuen Chefin in einem Boot zu sitzen. Dass dieVerbündete im Geiste der bewährten CDU in Wahrheit eine Angreiferin war, nahm der eine oder andere von den Entflohenen vielleicht später wahr, ohne den Mut zu einem Bekenntnis zu finden, dessen Radikalität von Angela Merkels Ausstieg aus der Partei-Identity in jedem Fall geschlagen würde. Die Zusteigerin war eine Aussteigerin, und niemand wagte, ihren Angriff auf die Kernwerte der Demokratie zu melden.
Joachim Gauck verkörpert diesen Durchblick, und wieder gilt das Tabu: Nur im Schutz dieses Tabus konnte der Angreifer gegen die Angreiferin plaziert werden. Plötzlich erscheint das gesamte Verfahren von einem verborgenen Sinn getrieben: Es sind, die niemand mehr ernstnehmen soll, die naiven Liberalen, geprügelte Kinder im Bündnis
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