Die Patin
kassierte ihren Lohn. Das System M hatte damals seine erste Stunde. Überlegenheit durch Abweichung war von nun an das Prinzip, mit dem sie Siege einfährt.
Sie profitiert ständig von ihren Bewegungsspielräumen in moralischen und ethischen Fragen, wo ihre Kollegen Vertragstreue anmahnen oder Rechtsnormen zitieren. Sie hat die imponierende Gleichgültigkeit der Herrschenden in der Diktatur erlebt und eine Lektion gelernt, die ihre Westkollegen erschreckt hätte, wenn Merkel nicht die weitere Lektion auch gelernt hätte: Vorsprünge dieser Art hält man nur durch Schweigen.
Die verschwiegene Lektion der Machthaber, die Merkel gelernt hat, heißt: Macht ist besser als Ohnmacht. In jedem System. Also setzteMerkel auf Macht. Und sie zählte zusammen, was sie auch gelernt hatte: Idealismus ist ein Handicap, wenn du entschlossen bist, deinen Vorteil zu nutzen. Dass ihr das vielzitierte ‹Gewissen› der Abgeordneten, das immerhin im Grundgesetz steht, auch nicht vermittelbar ist, hat sie in der ‹Präsidentendämmerung› eindrucksvoll bewiesen, drei Akte lang.
Die Kollegen sind aber mit der entsprechenden Lektion, die sie lernen müssten, um diese Chefin ausrechnen zu können, immer noch nicht fertig. Sie müssten mit einer objektiven Beobachtung beginnen. Diese Frau nimmt sich Freiheiten, die alle andern schon laut Parteisatzung gar nicht haben. Sie schreddert Werte, kippt Kabinettsbeschlüsse, räumt Gesetze gleich im Dutzend ab. Sie wechselt Positionen im Stunden-, Tagesoder Wochenrhythmus, als sei die Kanzler-Volte ein garantiertes Privileg des Regierungschefs.
Und sie behält Recht: Fast alle spielen mit. Alle, die in der Sonne ihrer Gnade weiterleben wollen – und wir wissen: Die Starken sind von Bord gegangen –, belassen es bei der Faust in der Tasche.
Die Kanzlerin hat eine Technik entwickelt, mit den Altlagern in den Köpfen ihrer Mitspieler umzugehen. Sie zitiert aus den Wertbaukästen der Tradition, wenn das Heimweh nach Vertrauen und Verlässlichkeit bei ihren Ruderern ausbricht. Sie zitiert auch für das Publikum die Welt der versunkenen Bindungen, indem sie urplötzlich von Lastern redet wie ‹Verlogenheit› und ‹Scheinheiligkeit›. Wir sind sicher, von ihr noch kein Kanzlerwort zur Lüge zu kennen, und wir wundern uns über die Kühnheit, mit der sie den Wortbrocken ‹-heiligkeit› in den Mund nimmt, freilich durch die Verneinung geschützt. Beide Begriffe wirken in Merkels Sprache seltsam unwirklich; sie sind nicht heimisch im Kanzlerin-Deutsch. Sie sind Zitat für die Leute von gestern, die in der Präsidententragödie von Christian Wulff die Seite wechseln sollten, weil sie Worte aus ihrem eigenen inneren Wörterbuch hörten: verlogen, scheinheilig seien alle, die den wankenden Präsidenten tadelten.
Die Werte der anderen: für die Staatschefin Merkel Manövriermasse, um den Kontakt zu den Idealisten aus der alten Bundesrepublik nicht abreißen zu lassen. Auch in ihrem eigenen Kinderland gab es solche Leute. Einer von ihnen tauchte gegen ihren massiven Widerstand plötzlichund unerwartet im Frühjahr 2012 in ihrer Nähe auf und nahm über ihr Platz, obwohl sie das Präsidentenamt schon zweimal degradiert hatte zu einer Kanzlerin-Kolonie.
Auch Joachim Gauck, ein Kind des Ostens wie sie, verkörpert nun die Werte der anderen.
Angela Merkel ist von Umbruch zu Umbruch gewandert: Hinter ihr brach die DDR zusammen, und vor ihr lag der Westen im Einigungs-Stresstest – Jubel mit bangem Herzen. Die kühle Angela sah wieder, was sie schon kannte: Alle Regelwerke sind relativ. Was heute gilt, wird morgen fraglich und übermorgen wegsortiert.
Die Politstarterin Angela hatte in der DDR nicht wahrgenommen, dass für Werte andere Laufzeiten gelten. Man solle keine Versprechungen machen, sagt sie, weil man dann «erpressbar» werde. Sich aufeinander verlassen? Waghalsig. Vertrauen geben, noch ehe der Schwächere, ausgliefert, vertraut? Riskant. Großzügig kommunizieren, eher overcommunicating als unberechenbar sein? Schweigen schützt vor Widersprüchen, lernte die Aufsteigerin beim Durchstarten. Moral und Gewissen, so ihre Erfahrung, wirken als Handicaps.
Wer zur Alltagsklugheit mit Aristoteles die Kardinaltugenden Gerechtigkeit, Mut und Maß zählt, wird zum Verlierer, weil Tugend Tempo kostet.
Die Kanzleranwärterin Angela Merkel ist mit einem illusionslosen Kanon an Spielregeln unterwegs. Jeder Wert, den andere preisen, geht bei ihr durch das Feuer der Karrieretauglichkeit. Angela Merkel
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