Die Pellinor Saga Bd. 1 - Die Gabe
bestätigte ihre Vermutung. »Noch ein Tagesritt, dann verlassen wir den Wald ins nordöstliche Annar, einen oder zwei Tagesritte von Milhol entfernt«, erklärte er. »Danach müssen wir entscheiden, welchen Weg wir einschlagen. Dort könnten wir auf die Ettinor-Straße gelangen, allerdings glaube ich nicht, dass es klug wäre, diesen Pfad zu wählen, obwohl wir schnellet reisen könnten. Andererseits: Wenn wir uns weiter gen Norden halten, beschreiben wir einen noch größeren Umweg. Ich bin sogar versucht, meine eigene Schule aufzusuchen, Lirigon, und von dort südwärts nach Norloch zu reiten - ich würde nur allzu gern ein paar Neuigkeiten in Erfahrung bringen. Aber das wären viele Tagesritte nach Norden, die uns letztlich vermutlich wenig bringen würden.«
»Müssen wir auf den Straßen bleiben?«, fragte Maerad.
»Nein, nicht ständig«, erwiderte Cadvan. »Und ich denke, das werden wir auch nicht tun, obwohl das Land westlich von Milhol rau und an einigen Stellen kaum begehbar ist. Außerdem fürchte ich, wir könnten uns verirren!«
In geselligem Schweigen ritten sie weiter. Nach ihrer Begegnung mit der Elidhu am Vortag kam Maerad der Wagwald nicht mehr so feindselig vor, und obwohl sie sich immer noch danach sehnte, das Zwielicht zwischen den Bäumen gegen Sonnenschein und Wind einzutauschen, war ihr auch klar, dass sie hier, verborgen vor neugierigen Augen, trotz der Gefahren des Waldes sicherer war. Aus unerfindlichen Gründen hatte sie das Gefühl, dass die Elidhu sie und Cadvan beschützte. Die langen Tage des Reitens zwischen den Bäumen hatten ihr auch Gelegenheit gegeben, die Ereignisse der vergangenen drei Wochen zu verarbeiten. Mittlerweile empfand sie weniger Verwirrung, weniger Zweifel, wenngleich es schien, dass die Fragen sich vervielfachten, je mehr sie über sich herausfand.
Letzteren Gedanken vertraute sie Cadvan an, der darauf meinte: »So ist das mit dem Weistum immer. Ich stelle es mir häufig wie ein Licht vor, das über einem dunklen Meer erblüh t; je heller es wird, desto deutlicher erkennt man die Tiefe und das Ausmaß des Unbekannten. Die Weisesten sind diejenigen, die wissen, wie wenig sie wissen!«
In jener Nacht schlugen sie das Lager in einer weiteren Senke auf, jedoch diesmal gab es dort keine Höhle, weshalb sie kein Feuer entfachen konnten. Das gute Wetter hielt, und die Nacht erwies sich sogar als ein wenig schwül. Nach Sonnenaufgang am folgenden Tag setzten sie den Weg fort, und gegen Mittag sah Maerad ein Licht durch die Bäume schimmern. Endlich hatten sie den Waldrand erreicht.
Die Bäume endeten recht unvermittelt. Blinzelnd stellte Maerad fest, dass sie auf ein Land rollender Höhenzüge voll purpurn blühendem Heidekraut hinausblickten. Der Weg zog sich weiter vor ihnen durch das Land, und Cadvan erklärte ihr, wenn sie ihm folgten, würden sie nach einer Weile zur Bardenstraße gelangen, die den Milholfluss entlang nach Ettinor führte. »Vorerst«, sagte er, »halten wir uns weiter Richtung Milhol. Ich möchte mir ein Bild von der Lage hier in der Gegend machen. Danach müssen wir beschließen, was wir als Nächstes tun.«
Die Landschaft, durch die sie ritten, erwies sich als einsam und kahl. Heftige, von den fernen, blau am östlichen Horizont schimmernden Bergen herabstürzende Winde fegten über sie hinweg. Bäume wuchsen hier keine, nur einige verkümmerte Dornenbüsche, und gelegentlich passierten sie Aufschlüsse verwitterten, grauen Granits, überwuchert von hellen Flechten, purpurn, gelb, grün und weiß. Auch andere, anscheinend von Menschenhand geschaffene Steine sahen sie: Kreise auf den Kuppen der kleinen Hügel, die wie mächtige, unterbrochene Kronen aussahen, manche umgekippt und zerfallen, andere noch aufrecht, aber schräg stehend wie Betrunkene. »Diese Steinkreise gab es schon vor Afinnil. Sie stammen aus den frühesten Tagen, in denen Menschen durch dieses Land wandelten«, erklärte Cadvan. »Inzwischen weiß niemand mehr, was sie darstellten; selbst in den Tagen der Dhyllin waren sie schon uralt und verwahrlost. Aufgestellt wurden sie vom Hügelvolk, das vor vielen tausend Jahren lebte. Manche denken, es seien Male für die Gräber ihrer Könige und Königinnen, andere glauben, dies seien die Plätze, an denen sie ihren Göttern huldigten. Einige der Steine weisen eigenartige Markierungen auf.«
»Und was glaubt Ihr?«, fragte Maerad.
»Ich weiß es nicht«, gab er zurück.
Als die Abenddämmerung einsetzte, befanden sie sich
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