Die Pellinor Saga Bd. 1 - Die Gabe
Sprache als ihre Begegnung mit der Elidhu. Mit einem Schlag erhielt die tragische Geschichte von Andomian einen neuen Bezug. Das ist die Geschichte meiner Vorfahren, dachte sie, es ist meine Geschichte. Sie stellte sich vor, wie Andomian in den Verliesen des Hexers Karak allein und verzweifelt starb, nachdem sie ihre Brüder vor der Sklaverei gerettet hatte. Maerad schauderte. »Warum habt Ihr mir das nicht schon früher erzählt?«, verlangte sie zu erfahren. Cadvan zögerte mit der Antwort. »Usted hat dein Erbe beim Rat von Inneil erwähnt, abgesehen davon jedoch ist das Thema bislang nicht aufgekommen«, sagte er schließlich. »Und vielleicht missfällt mir persönlich die Vorstellung vererblichen Bardentums. Es gibt einige, die ihrer Abstammung nicht würdig sind und die sich stolzer gebaren, als es ihren Fähigkeiten entspricht.«
Eine lange Weile schwiegen beide, und jeder hing seinen eigenen Gedanken nach. Maerad vermeinte eine neue Ferne in Cadvan zu spüren, ein Zurückweichen von der Nähe, die sich zwischen ihnen zu entwickeln begonnen hatte, und das bekümmerte sie. Schließlich war es nicht ihre Schuld, fand sie, dass sie einer solchen Familie entstammte; das hatte sie sich ebenso wenig ausgesucht wie ihre Kindheit als Sklavin. Welche Fetzen der Geschichte sie auch hinter sich herschleifte, sie war immer noch die, die sie war.
Cadvan regte sich. »Etwas verwirrt mich«, gestand er. »Kannst du mir noch mal sagen, welches Lied die Elidhu sang?«
Maerad wiederholte die Verse, die sie gehört hatte, und Cadvan lauschte aufmerksam. »Ja«, meinte er. »Das todlose Moos auf dem singenden Baum und auch die verborgene Wurzel. Und Lanorgil sprach vom Baumlied. Nun, Maerad, ich bin bestens in der Hohen Sprache bewandert, und in jenen Überlieferungen gibt es vieles, das von der Wurzel der Hohen Sprache, vom Baum des Lebens und dergleichen berichtet. Ich vermute, dass da eine Verbindung besteht. Allerdings habe ich noch nie vom Baumlied gehört. Ich weiß nicht, was es ist.« Ungeduldig stocherte er im Feuer. »Ich denke, es könnte sehr wichtig sein, dass wir es herausfinden«, fuhr er fort. »Und vielleicht spielt das Wissen der Elementare eine etwas größere Rolle in unseren Belangen, als den Barden bisher bewusst war. Es steht geschrieben, dass die Elementare sich häufig in Afinnil aufhielten und mit den Barden dort sangen. Aber so viel vom Weistum ging während der Großen Stille verloren. Mir gibt so viel an all dem Rätsel auf. Ich wünschte, ich könnte mit Nelac reden!« Er seufzte.
»Eurem Lehrer?«, fragte Maerad neugierig.
»Ja, er war mein Lehrmeister«, bestätigte Cadvan und sah sie an. »Mittlerweile ist er sehr alt. Der bedeutendste Leser in diesem Land. Er verkörpert den Hauptgrund, weshalb ich nach Norloch will. Wir brauchen seinen Rat.«
»Ist er dort der Oberste Barde?«
»Nein, nicht der Oberste, obwohl er natürlich ein Barde des Zirkels ist. Aber meiner Ansicht nach ist er der Weiseste dort. Vor langer Zeit, nachdem Noldor starb, bat man ihn, Oberster Barde zu werden, doch er hat sich geweigert und sagte, ihn dürste nicht nach solchen Ehren. Der amtierende Oberste Barde ist Enkir, ein weiterer großer Leser. In Norloch waren die Obersten Barden fast ausnahmslos Leser, wenngleich es ein paar wenige Erschaffer gab. Enkirs Verstand ist ebenso scharf wie beharrlich, und unter den Weisen gilt er als einer der ganz Großen. Er ist ein stolzer und hochmütiger Barde aus einem weiteren bedeutenden Haus, dem Haus Lenar.«
»Aber Nelac ist der Größere von beiden?«, wollte Maerad wissen.
Cadvan blickte zu ihr auf und grinste, wodurch sich ihre Bedenken von zuvor plötzlich auflösten. »Ja, in meinen Augen schon, wenngleich mir da viele widersprechen würden«, gab er zurück. »Denn Nelac von Lirigon ist auch weise, wenn es um Herzensangelegenheiten geht. Enkir hingegen ist zu kalt, zu streng, zu stolz, um davon etwas zu verstehen. Aber du wirst diese Leute kennenlernen und kannst dir dann selber ein Urteil bilden.«
»Es hört sich an, als ob Norloch… dass dies alles nichts mit mir zu tun hat«, meinte Maerad zweifelnd.
»Norloch ist grundverschieden von Inneil«, erwiderte Cadvan. »Aber du hast bereits Furchterregenderem getrotzt als ein paar alten Männern.«
Am folgenden Tag setzten sie die Reise durch den Wagwald fort, und endlich glaubte Maerad zu erkennen, dass die Bäume sich ein wenig lichteten. Hoffnungsvoll fragte sie sich, ob sie sich dem Rand näherten. Cadvan
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