Die Pellinor Saga Bd. 1 - Die Gabe
eines Vogels versehen, und sie kleideten sich in zart gefärbte, kunstfertig genähte Gewänder. Selbst eine Mahlzeit wurde wie ein Kunstwerk aufgetragen.
Die Menschen von Rachida waren freundlich und großzügig, und Cadvan und Maerad wurden in viele Häuser zum Essen eingeladen, und man zeigte ihnen allerlei wundersame Dinge: eine Eberesche, aus einem einzigen Alabasterstück gemeißelt und bis in kleinste Einzelheiten ausgearbeitet; eine Halskette mit zahlreichen, kunstfertig geschnitzten Gliedern aus einem einzigen Hirschknochen; ein Seidengewand, gefärbt in all der Farbenpracht eines Sonnenuntergangs, der sich über einen Fluss ergießt, gewoben aus einem einzigen Faden. Die Bewohner Rachidas erfreuten sich an solchen Meisterstücken der Handwerkskunst und Geschicklichkeit, ließen dabei jedoch keinerlei Anzeichen von Habsucht erkennen. Cadvan und Maerad lehnten unzählige kostbare Dinge ab, die ihnen nur deshalb angeboten wurden, weil sie bewundernd darauf starrten; als Vorwand gaben sie an, dass es ihnen nicht möglich war, sie mit nach Hause zu befördern. Trotzdem endeten mehr als ein paar davon in ihrem Haus. Wenn sie nicht bei anderen speisten, brachte ihnen ein junger Mann namens Idris Essen in ihre Unterkunft. Er zeigte sich sehr neugierig über die Weltjenseits Rachidas, die niemand, den er kannte, je gesehen hatte. Seine Neugier war ungewöhnlich, den trotz ihrer Abgeschiedenheit kümmerten sich die meisten Menschen, denen sie bisher begegnet waren, kaum darum, was außerhalb ihrer Grenzen vor sich ging. Sie bezeichneten Rachida als den Nabel der Welt und fanden, dass ihre Stadt alles zu bieten hatte, was sie sich je wünschen könnten. Idris hingegen lauschte Cadvans Erzählungen über ferne Städte aufmerksam und mit leuchtenden Augen. Doch als Cadvan ihn fragte, ob er gerne auf Reisen gehen würde, schüttelte er nur den Kopf. »Aber nein«, entgegnete er. »Welchen herrlicheren Schatz als unseren Ort hier könnte ich schon finden?« Maerad und Cadvan konnten seinen Standpunkt durchaus nachvollziehen, dennoch begann die Verzögerung nach einigen Tagen an ihrer Geduld zu zehren. Von Königin Ardina hatten sie immer noch nichts gehört.
»Ich war noch nie an einem so von der Welt abgesonderten Ort!«, rief Cadvan aus, nachdem Idris gegangen war. »Allmählich frage ich mich, ob man uns überhaupt gehen lassen wird. Vielleicht lautet der Preis für ein Eindringen, dass wir hier bleiben müssen - und das können wir nicht.«
Maerad zählte zurück und errechnete, dass es etwas über zwei Monate her war, dass sie Cadvan erstmals begegnet war. Somit hatten sie inzwischen Ende April oder Anfang Mai. Was für eine kurze Zeit!, dachte sie erstaunt bei sich. Das Dasein, das sie in Gilmans Feste gefristet hatte, erschien ihr mittlerweile wie ein völlig fremdes Leben, eine böse Erinnerung, die aufgrund der Entfernung bereits abgestumpft war; selbst ihr Aufenthalt in Inneil schien schon eine Ewigkeit zurückzuliegen. Und nun saßen sie hier fest, gefangen wie Fliegen in Bernstein außerhalb der Zeit. Sie schaute durch das Fenster zu dem Springbrunnen, der leise in der warmen Luft plätscherte. Im Zimmer herrschte Ruhe und Frieden, dennoch fand sie in sich selbst keine innere Ruhe. Sie gehörte nicht hierher.
»Das hoffe ich nicht«, meinte sie. »Es ist an der Zeit, weiterzuziehen.« Am siebten Tag ihres Aufenthalts wurden sie abermals zum Nirhel gerufen. Diesmal begaben sie sich ohne Begleitung zu dem großen Haus. Als sie den Saal betraten, erwartete Königin Ardina sie auf ihrem schwarzen Thron.
Maerad blinzelte. Sie hatte den Eindruck von Ardinas Schönheit, von der Macht ihres Blickes bereits vergessen. Diesmal hatte die Königin das Haar zu einem langen, silbrigen, mit Perlen verwobenen Zopf geflochten, und ihre Stirn zierte ein schlichter Reif aus Silber mit einem Mondstein darin.
»Cadvan von Lirigon und Maerad von Pellinor«, sprach die Herrin und erhob sich, um sie zu begrüßen. »Ich hoffe, ihr habt euch gut erholt und einen Eindruck von der Gastfreundschaft meiner Stadt erhalten.«
»Habt unseren Dank, Königin Ardina«, antwortete Cadvan. »Wir haben uns prächtig erholt. Außerdem wurde uns große Höflichkeit entgegengebracht, und uns wurden viele wunderschöne Dinge gezeigt. Rachida ist ein Ort der Wunder, an dem ein wundes Herz in Frieden verweilen kann.«
»Rachida wird zu Recht als der Nabel der Welt bezeichnet«, erwiderte sie. »Aber der Anblick dieser Wunder hat einen Preis.
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